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ZWISCHEN HÖRSAAL UND WASCHSALON
Reihe 50 Jahre Studentenbewegung 1968 - eine Spurensuche
Anderer Anspruch an Aufbruch

Text und Fotos (6): Walter Budziak, 4.10.2017

Amerika und Vietnam, Kriege und Polizeigewalt, Ablehnung und Widerstand, diese Reizwörter fallen Isabel Brand und Claas Timmermann ein, beide Studierende der Universität Witten/Herdecke (UW/H), wenn sie an die Streitthemen der Studenten denken, die vor fast 50 Jahren ganz Europa aufwirbelten. Aber auch Idealismus und die Freiheit, von einer besseren Welt "träumen zu dürfen", schreibt Timmermann dieser Studentengeneration zu. "Ein solcher Aufbruch ist heute nicht mehr", stellt seine Kommilitonin ergänzend dazu fest. Ein "Paradebeispiel" für Veränderung sei Witten trotzdem.

Allein die "familiäre Größe" der UW/H vermeide Kontroversen, wie sie in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre an vielen Universitäten diskutiert und ausgefochten wurden. Als Studenten Vorlesungen stürmten, Seminare besetzten, Professoren entführten oder an Lehrveranstaltungen hinderten. Fast jeder Studierende grüße an der UW/H fast jeden Dozenten, auch die im Senat oder Präsidium. Studentierende heute wählten mit ihren Fragen oder Forderungen "den eingebundenen Weg", so Claas Timmermann aus Hamburg.

Grüne als politische Alternativen

Mit vielen Themen der 68er-Studenten setzten sich die Studierenden heute auch noch auseinander. Anders als vor 50 Jahren kämpften sie aber nicht mehr gegen ein gesellschaftliches oder politisches System als ganzes. "Viele stehen für viele einzelne Dinge ein" wie Tier- und Naturschutz, Nachhaltigkeit oder soziale Verantwortung, sagt die angehende Zahnmedizinerin Isabel Brand aus Essen. Die Studierenden widmeten ihr Engagement gezielt bestimmten Initiativen. Kindern in Krankenhäusern vorlesen zähle ebenso dazu wie verpackungsfrei einkaufen, so die 25-Jährige. Protest finde in den kleinen Räumen statt, in denen man sich bewege und die man mitgestalten könne. In Witten seien "viele kleine Initiativen" wie die "Füllbar" dafür ein "Paradebeispiel".

Der Anspruch sei heute ein anderer. Studierende strebten nicht mehr danach, das politische System mit dem alltäglichen Leben zu verbinden, folgten nicht mehr dem Motto "heute verändern wir die Welt", formuliert Timmermann seine Sicht auf eine 50-jährige Studierendengeschichte. Die grundsätzlichen Kämpfe um die richtigen Ziele und die Wege, wie sie erreicht werden könnten, wird offenbar bereitwillig den Parteien überlassen. Mit Parteien wie den Grünen seien - auch dank der 68er-Bewegung - politische Alternativen entstanden, "die wir heute wählen können, statt für politische Veränderung auf die Straße zu gehen", verweist der Masterstudent der Psychologie auf ein erweitertes parteipolitisches Spektrum.

"Sozialer Arm der Universität"

Vielleicht liege es auch "am Zeitalter des Individualismus", wenn sich Studierende heute nicht mehr in geschlossenen Gruppen gegen missliebige Verhältnisse solidarisierten, meint Isabel Brand. Heutige studentische Biografien legen diese Einschätzung nahe.

Nach ihrem Abitur absolvierte die 25-Jährige ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in Berlin, erkundete sich und die ihr offenstehende Welt, bevor sie sich für ein Studium in Witten entschied. Ähnlich ihr 30-jähriger Kommilitone, der im holländischen Groningen sein Bacherlorstudium absolvierte und nach seinem Masterabschluss als Verhaltenstherapeut arbeiten möchte. An der UW/H sind beide nicht nur Kommilitonen. Als Vorstandsmitglieder leiten sie auch das Hochschulwerk, den "sozialen Arm der Universität" (Timmermann), Brand im Bereich Kommunikation, Timmermann als Veranstaltungsvorstand.

Proteste heute "auf anderen Kanälen"

Viel fehlt nicht an einem Jahresbudget von einer Viertelmillion Euro, das beide neben ihrem Studium mit verwalten. Sie entscheiden mit, wofür die Sozialbeiträge ausgegeben werden, die alle Studierenden pro Semester bezahlen müssen, sie organisieren "alles, was nicht akademisch ist", wie kostenlose Sportkurse oder Konzerte, sie betreiben die Cafeteria, sie verkaufen Uni-Shirts, sie sammeln "Inkasso-Erfahrung" (Timmermann), wenn Studierende ihre Semesterbeiträge nicht entrichten.

Auch wer seine studentische Lebenswelt nicht so unmittelbar mit beeinflussen könne, habe heute entgegen früher immer mehr Möglichkeiten, sich einzubringen, im Internet, in den sozialen Medien. Meinungen und Proteste passierten heute "auf anderen Kanälen", zieht Brand einen Vergleich zu den Plakaten und Flugblättern der Studentenbewegung vor 50 Jahren. Nur heute fehle "die Erwartung, etwas jetzt zu ändern".

Zunehmende Schwierigkeiten, sich zu informieren

In Hamburg "positiv linksidealistisch erzogen", sehe er heute auch nicht mehr "den klaren Feind", gegen den sich studentischer Protest richten könnte, argumentiert Timmermann auch mit zunehmenden Schwierigkeiten, sich zu informieren. Wer wisse schon, nennt er das Beispiel Nestlé, welcher Konzern welche Schäden womit verursache. Manchmal stünden zerstörerischen Eingriffen in einem Teil der Welt soziale Wohltaten in anderen Ländern gegenüber, versucht er zu erklären, wo allgemein die "Protestenergie" auch verpuffen könnte.

Alle Beiträge der Reihe:
"Offene Räume", Interview mit Prof. Dr. Birger Pridddat, UW/H
Radfahren gegen Fahrpreiserhöhung und kein Protestbaden im Rhein
Anderer Anspruch an Aufbruch
Studieren unter Vertrag


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