Drei "formative Phasen der Wittener Stadtgeschichte" unterscheidet Heinrich Schoppmeyer in seinen stadtgeschichtlichen Publikationen
[?]Literaturnachweis
Text basiert im wesentlichen auf Auszügen und Zitaten aus:
Heinrich Schoppmeyer, Witten – Geschichte von Dorf, Stadt und Vororten, Verein für Orts- und
Heimatkunde in der Grafschaft Mark, Bd. 2, Witten 2012
Heinrich Schoppmeyer, Kleine Studien zur Geschichte Wittens, Verein für Orts und Heimatkunde in der Grafschaft Mark, Witten 2018,
eine agrarwirtschaftlich geprägte Epoche, deren Beginn
vermutlich weiter zurückliegt als die erste urkundliche Erwähnung aus dem Jahr 1214, den Wandel des mittelalterlichen und
frühneuzeitlichen Dorfes Witten in eine Industriestadt im Zuge der Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert
und den Wiederaufbau nach 1945.
"Formativ" nennt Schoppmeyer die drei Phasen, weil Gebäude errichtet, Wege angelegt wurden, die das Stadtbild bis heute bestimmen. Zentrum der
agrarwirtschaftlichen Siedlung bildete die Johanniskirche, wahrscheinlich aus dem 10. Jahrhundert, mit dem späteren Kornmarkt. Die
etwa zwei Dutzend angegliederten Höfe teilten sich auf in ein Oberdorf mit den Achsen der heutigen Johannisstraße und Im Örtchen und ein Unterdorf
zwischen der heutigen Casinostraße und der Wiesenstraße mit der späteren Heilenbecke als Mittelachse.
"Dreizelliges" Dorf mit natürlichen topografischen Grenzen
Die Bevölkerung wuchs, südlich des Oberdorfs entstanden weitere Höfe entlang der heutigen Kurt-Schumacher-Straße und Südstraße,
womit die mittelalterliche Siedlung als nunmehr "dreizelliges" Dorf auch ihre natürlichen topografischen Grenzen - Wittener Bruch im
Nordosten, Ardeygebirge im Osten sowie Helenenberg und Hohenstein im Südosten - erreichte.
Die umliegenden Wiesen und Wälder dienten den Dorfbewohnern gemeinschaftlich als Weideflächen für ihr Vieh und Vorratsspeicher für ihren
Bedarf an Bau- und Brennholz. Eine weiter wachsende Bevölkerung konnte nur mit Binnenansiedlungen verkraftet werden, indem größere Höfe in kleinere
Grundstücke parzelliert wurden. Erst die nach 1780 einsetzende Industrialisierung konnte "jene Grenzen, die die agrarisch bestimmte Wirtschaft zog", überwinden,
schreibt Schoppmeyer.
Erst der Kohleabbau und Industriebetriebe wie die Stahlfabrik Johann Friedrich Lohmann
in Haus Berge (später Haus Witten, 1790/1815) sowie 35 weitere Firmen vornehmlich im Metallsektor wie die Kesselschmiede von
Caspar Friedrich Moll (1825),
die Eisengießerei Doering & Co. (1845) an der Ecke Johannisstraße/Ardeystraße,
die Gussstahlfabrik von Berger & Co. (1854), die Steinhauser Hütte (1855)
oder die Glasfabrik der Brüder Gustav und Theodor Müllensiefen (1825)
am Crengeldanz veränderten auch
die Koordinaten der Verkehrs- und Transportwege in Witten. Der Handel wie der seit dem Spätmittelalter in der Region bedeutsame
Wittener Kornmarkt verlor ebenfalls gegenüber der Industrie an Bedeutung. Dazu trug auch der Bau der Linie Elberfeld-Dortmund der
Bergisch-Märkischen Eisenbahn bei, die Witten 1848 erreichte.
Allein an Rationalität und Zweck orientiert
Hatte der große Chausseebau der Crengeldanz- / Ardeystraße (1788 - 1794) den Dorfkern
noch weitgehend unberührt gelassen, wurde Witten mit dem Bau der Haupt- und Ruhrstraße (1799 - 1801)
an das überörtliche Straßenverkehrsnetz angeschlossen. Stadtplanerisch prägender waren jedoch weitere Bahnlinien,
die Witten bald im Süden, Westen und Norden umkreisten. So entstand 1849/50 die Bahnhofstraße als Verbindung des Dorfzentrums
rund um die Johanniskirche mit dem ersten Wittener Bahnhof an der unteren Breite Straße. "Damit fügte sich jenes große
Straßen-T aus Bahnhofstraße, Ruhrstraße und Hauptstraße zusammen, auf das das gesamte Wittener Straßennetz sich in Zukunft
mehr oder weniger ausrichten musste", so Schoppmeyer weiter mit der Feststellung, "dass sich die Planer allein an der Rationalität
und dem Zweck orientierten." Historisch gewachsene Verhältnisse seien prinzipell außer Acht gelassen worden, was sich beispielhaft
am Verlauf der Ardeystraße zeige, die über sämtliche aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit stammenden Parzellgrenzen hinweg
angelegt worden sei.
Marienkirche als Dorfmittelpunkt?
In diese zweite "formative" Phase fallen auch einige andere behördliche, kirchliche und private Initiativen der Urbanisierung bei gleichzeitig rasant
steigender Bevölkerung von 1 500 Einwohnern im Jahr 1818 auf 38 000 Einwohner im Jahr 1914. So
entstanden eine Sparkasse (1853), eine Stadtplanung (1855), ein Gaswerk (1865) und eine Wasserversorgung (1867),
eine Straßenbahn fährt seit 1899,
das Stadtbad und das Märkische Museum eröffneten 1911. 1846 kaufte die römisch-katholische Gemeinde das Grundstück für die Marienkirche,
wohin sich
siedungsgeschichtlich auch der Dorfmittelpunkt hätte verlagern können, wäre der Anschluss an die Eisenbahnlinien nicht so bald erfolgt.
Die Gedächtniskirche wurde 1892 eingeweiht.
Wiederaufbau "bei Verzicht auf einschneidende Neuplanungen"
Der Wiederaufbau nach 1945, nach zwei Luftangriffen waren 80 Prozent der innerstädtischen Gebäude zerstört,
verlief bis in die Wohngebiete der Vororte "bei Verzicht auf einschneidende Neuplanungen" zunächst erfolgverheißend.
Industrie und Handwerk florierten, die Bevölkerung wuchs, auch durch Zuwanderung und die Aufnahme von Geflüchteten und Vertriebenen,
bis 1975 auf eine Höchstmarke mit Herbede von über 110 000 Einwohnern. Bei den Beschäftigtenzahlen rangierte Witten 1954 in Westfalen
an dritter, in NRW an sechster Stelle. Gleichwohl machten sich bereits während der ersten Bergbaukrise 1958 strukturelle Schwächen bemerkbar.
Die Montanindustriebetriebe mit ihren benachbarten Produktionszweigen erwirtschafteten 1964 mit 71 Prozent der
Industriebeschäftigten rund 70 Prozent des Umsatzes. "Eine Ausweitung des Dienstleistungssektors, die in der Regel
künftiges Wirtschaftswachstum anzeigt, hatte nicht stattgefunden", so Schoppmeyer rückblickend.
Stadtfinanzen fast lustvoll in den Abgrund gefahren
Beide Entscheidungen, das planlose Festhalten am vorzeitlichen Straßengeflecht beim Wiederaufbau und das frühe Verlassen
auf wenige großindustrielle, im wesentlichen stahlerzeugende und -verarbeitende Betriebe, sollten der Stadt noch schwer zu schaffen machen.
Weitere, zum Teil noch gravierendere, Dummheiten kamen in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hinzu. Ließe sich der Verlust der Kreisfreiheit
im Rahmen der kommunalen Neugliederung 1975 noch als unabwendbares Schicksal erklären, spottet der Sturz in ein tiefrotes Schuldenloch
jedem gesunden Menschverstand. Sehenden Auges fuhren die Stadträte die Stadtfinanzen fast lustvoll in den Abgrund.
Rathausplatz in "Plattensee" verwandelt
Der immense Bedarf an Wohnungen und der Wiederaufbau der Industriebetriebe an ihren Standorten setzten den Planern in der zerbomten Stadt
sicherlich enge Grenzen, "obgleich wenigstens in der Kernstadt theoretisch die Chance bestanden hätte, die für die Stadtplaner schwierige
topographische Situation in den ersten Jahren nach 1945 zu verändern", schreibt Schoppmeyer. Weitgehend übernommen wurden auch die vorhandenen
innerstädtischen Grünanlagen wie der Friedhof der evangelischen Kirchengemeinde (Teil des heutigen Lutherparks),
Voß' Garten an der Ruhrstraße und der Garten der Villa Lohmann, später
zum Stadtpark erweitert. Ansonsten bildete das bestehende Straßensystem den Rahmen der städtebaulichen Gliederung, so Schoppmeyer.
"Wiederum spielten weniger die Plätze als die großen Kreuzungen die Hauptrolle." Besonders zum Markt und zur Kreuzung mit
Haupt- und Ruhrstraße sei die Bahnhofstraße "trichterförmig erweitert" worden. Ähnliches widerfuhr Haupt-, Johannis- und Ruhrstraße.
Ganze Häuserzeilen wurden abgerissen, der Rathausplatz (Marktplatz) zur Hauptstraße hin "in eine kahle Fläche verwandelt und damit für jenen
'Plattensee' vorbereitet, der bis zum Ende des 20. Jahrhunderts das Bild bestimmte."
Vergeblich auf Impulse gewartet
Was in der Innenstadt von vorneherein nicht gelang, ein attraktives Zentrum zu gestalten, wurde in den Vororten gar nicht erst versucht.
Weder für Bommern, noch für Heven, Stockum oder Rüdinghausen wurden Ortsmitten geplant, obwohl dies "angesichts der großen
freien Flächen möglich gewesen" wäre,
wie Schoppmeyer am Beispiel Bommern ausführlich darlegt. Stattdesssen "begnügte man sich mit einer Bebauung, die auf die großen
Durchgangsstraßen ausgerichtet war."
Zeitgleich sparten Beobachter, aber auch die Planer selbst nicht mit Kritik. Dass "wesentliche Höhepunkte und bemerkenswerte Bauschöpfungen"
ausgeblieben seien, beklagte Stadtbaurat Giar noch während seiner Amtszeit 1968. Man sei, zitiert Schoppmeyer den Stadtbaurat sinngemäß weiter,
mit voller Absicht bescheiden geblieben, um so eine menschliche Stadt zu erhalten, und man habe die Gefahr in Kauf genommen,
dass Witten im Status einer Mittelstadt verblieben sei, zu der es ohnehin mehr als zu einer Großstadt tendiere.
Witten habe vergeblich "auf jene Impulse (...) gewartet, die
aus einer zufälligen Anhäufung von Menschen und Baulichkeiten eine blühende Stadt hätten machen können",
zitiert Schoppmeyer eine entgegengesetzte Meinung der lokalen Presse,
nach der es bei den Stadtoberen "nicht nur hier und da, sondern allgemein an Qualität mangelt". So fehle auch ein Ersatz "für die unzähligen
Bäume, die aus den Straßen der Innenstadt und aus den einst vorhandenen Gärten und Baulücken verschwunden sind".
Eines der markantesten Gebäude könnte heute den Berliner Platz maßgeblich mit prägen
Als "echte Katastrophe" brandmarkte die Presse auch den Abbruch der Gründerzeitvillen an der mittleren Ruhrstraße, was wenig bewirkte.
Bis in die 1970er Jahre vertraten die Stadtplaner auch in Witten die Auffassung, "historische Gebäude der Jahrhundertwendearchitektur" seien "minderwertig".
Mit ihrem Buch Historismus und Jugendstil! Wittener Bürgerhäuser der Jahrhundertwende startete die Wittenerin
Christel Darmstadt 1973 eine Initiative zum Erhalt alter Bausubstanz. Die Bauten des Historismus und des Jugendstils heben sich, schrieb sie,
"wohltuend von den meist schmucklosen Rasterfassaden und den häufig langweiligen Betonklötzen der modernen Architektur ab. Nicht selten
sind sie sogar die einzigen Faktoren, die die Individualität eines Stadtbildes prägen." Für das Haus Steinstraße 1 kam dieser Weckruf
allerdings zu spät. 1972 fiel "eines der markantesten Gebäude", so Schoppmeyer, "das heute den Berliner Platz maßgeblich mit prägen könnte."
Das 'eigenwillige Eckhaus' mit Elementen der (französischen) Renaissance und des Barock akzentuierte durch seine rundturmartige Architektur mit
aufgesetzter Kuppel an der Ecke Steinstraße / Theodor-Heuss-Straße den Zusammenlauf beider Straßen, meint der Wittener Historiker.
Ambitionen zerschlagen
War schon in den ersten Nachkriegsjahrzehnten wenig Bereitschaft für eine eigenständige Anbindung an so etwas wie eine Ruhrregion erkennbar,
am 1. Januar 1975 wären derartige Ambitionen zerschlagen gewesen. Die vom Land NRW verordnete kommunale Neuordnung zwang Witten
in den Enneppe-Ruhr-Kreis, und das nicht einmal als vorrangige Kreisstadt. Den Posten erhielt das viel kleinere Schwelm
(1970 ca. 35 000 Einwohner gegenüber fast 100 000 Einwohner), wegen eines dort soeben
errichteten neuen Kreishauses. Witten bekam Herbede zugeschlagen, verlor aber nicht nur seine seit 1899 bestehende Kreisfreiheit, flöten gingen auch
Eigenständigkeiten und Handlungsspielräume. In einem Gutachten kommt der Hamburger Rechtsprofessor Werner Thieme zu dem Schluss, "dass die Einkreisung
der Stadt Witten (...) sich unter der Mehrzahl der Maßstäbe negativ, unter einigen neutral und unter keinem positiv auswirkt." Eine letztlich mit
den Stimmen aller Ratsfraktionen unterstützte Aktion Bürgerwille konnte das Schicksal auch mit 12 000 gesammelten
Unterschriften nicht mehr abwenden.
Außerordentlicher Schaden
Witten siedelt seitdem zwischen Stamm und Borke. Mit dem im Süden an Wuppertal grenzenden Westfälischen und
Bergischen verbindet die Ruhrpflanze im Norden mit industriellen Wurzeln aus Kohle und Stahl wenig, ein Anschluss an den lebhaften Strukturwandel einer
vielleicht zusammenwachsenden Metropole Ruhr bleibt vermutlich auf Sankt Nimmerlein versperrt.
Zaghafte Ansätze wurden 1993 im Zusammenhang mit einer Neugestaltung der Bahnhofstraße diskutiert (Fortführung
der U-Bahn Linie 35 von Bochum Hauptbahnhof bis Witten mit Haltestellen am Hauptbahnhof, Berliner Platz und Kornmarkt),
sie wurden aber schnell wieder verworfen. Stattdessen blieb die Straßenbahn "mit verbessernden Modifikationen" als "kleinste Lösung".
Es sei ein außerordentlicher
Schaden für Witten gewesen, zitiert Schoppmeyer mehrere, sinngemäß übereinstimmende Quellen, "dass die U-Bahnpläne im Sande verliefen."
Kämmerer Zimmermann 1961: "Sparsamkeit ist die Mutter der Freiheit"
Ob dabei die Kreiszwangsjacke entscheidend den Tatendrang abwürgte, bleibt fraglich. Witten zitterte vor den Kosten wie das sprichwörtliche Kaninchen
vor der Schlange. Entgegen vieler Warnungen hatten die Ratsfraktionen, allen voran die SPD-Mehrheitsfraktion, die städtischen Finanzen 1993 längst
an den Klippenrand gepokert. "Die Sparsamkeit ist die Tochter der Vorsicht, die Schwester der Mäßigkeit und die Mutter der Freiheit",
hatte der im März 1961 aus dem Amt scheidende Kämmerer Wilhelm Zimmermann den Ratsfraktionen in seiner Abschiedsrede
mit auf den Weg gegeben. Die Schulden standen bei 20 Mio. DM, um anschließend in einer geradezu rauschhaften Ausgabenorgie alle
Barrieren der Vernunft zu reißen. Auch zwei Parallelhaushalte, ein ordentlicher und ein außerordentlicher, konnten nicht kaschieren, 1973
lagen die Schulden bei 76 Mio. DM, die nur noch von einem netto aktivierbaren Kapitalvermögen von 22 Mio. DM gedeckt waren, so
Schoppmeyer zur damaligen Finanzlage der Stadtkasse.
Erklärungen und Schuldzuweisungen wie bei Süchtigen
Der erste auch offiziell nicht ausgeglichene Haushalt versalzte 1991 die Bilanz, die Stadt musste sich einem Haushaltssicherungskonzept unterwerfen. Der weitere
Schuldenverlauf ist Geschichte. 2016 lagen die nicht durch Eigenkapital gedeckten kumulierten Schulden bei 142,7 Mio. Euro. Das eigentliche Dilemma dabei,
die Schulden wurden vornehmlich konsumiert und nicht in zukunftsweisende Vorhaben investiert. Wie bei Süchtigen wurden in den Ausschuss- und Ratssitzungen
Jahr für Jahr immer dieselben Erklärungen und Schuldzuweisungen rauf- und runtergeleiert, der Bund bürde den Kommunen mit immer neuen Gesetzen immer mehr
finanzielle Lasten auf, trotz solcher teilweise sicher berechtigten Einwände, ein Großteil des Schuldenbergs wurde und wird im Rathaus aufgehäuft. Schon 1974
verschlangen die Löhne und Gehälter der Verwaltungsangestellten und -beamten mehr als ein Drittel der Ausgaben,
wobei im Rathaus ein mittlerer Beamter zwei Vorgesetzte habe, die Pyramide mithin
auf dem Kopf stehe, wie Schoppmeyer die damalige Rede des FDP-Fraktionsvorsitzenden Richter zusammenfasst.
Witten hinter Duisburg ruhrgebietsweit an zweiter Stelle
Vom Bund ebenfalls nicht aufgebürdet war eine Wirtschaftsförderung, die keine junge dynamische Wirtschaft förderte, sondern verbissen
an großindustriellen Strukturen aus Stahl und Eisen festhielt. Anfang der 1970er Jahre stellte das verarbeitende Gewerbe mit der
Eisen- und Metallerzeugung sowie dem Stahl-, Maschinen- und Fahrzeugbau die mit Abstand größte Gruppe aller Beschäftigten.
Noch Mitte 1984 arbeiteten 57 Prozent im verarbeitenden Gewerbe, allein der Anteil der Stahlbranche lag
bei 20,8 Prozent aller Beschäftigten.
Witten lag damit hinter Duisburg (24,4 Prozent)
ruhrgebietsweit an zweiter Stelle, gefolgt von Hagen (19,0 Prozent), Mühlheim (14,6 Prozent), Dortmund (8,8 Prozent)
und Oberhausen (8,0 Prozent).
Im Bereich privater und öffentlicher Dienstleistungen verdienten noch 1984 dagegen nur 20,6 Prozent aller Beschäftigten ihren Lebensunterhalt
(NRW: 29,7 Prozent),
9,5 Prozent in privaten Unternehmen und freien Berufen (NRW: 18,0 Prozent). Entsprechend groß waren auch die Auswirkungen
auf den Wittener Arbeitsmarkt, der durch die Arbeitsplatzverluste in der Stahlbranche stark belastet wurde. Allein das Edelstahlwerk trug nach der
Übernahme durch ThyssenKrupp 1975 "maßgeblich zu der hohen Arbeitslosenquote Wittens bei", schreibt Schoppmeyer zu den fast 5 000 von
6 886 (ohne Auszubildende) abgebauten Stellen.
Kommunalpolitisches Aktionsprogramm
Bestrebungen, die Vormacht der Stahlbranche zugunsten eines kreativen und innovativen Dienstleistungssektors zu mindern, sind wenig erkennbar. Mehr
als die Hälfte der Ratsmitglieder - in allen Fraktionen - saß in den 1970er Jahren gleichzeitig im Betriebsrat des Edelstahlwerks,
bestätigt auch der damalige Vorsitzende der SPD-Ratsfraktion und spätere Bürgermeister Klaus Lohmann. Kaum überraschend,
wenn viel über den Erhalt jedes einzelnen Stahlarbeiterplatzes nachgedacht wurde und wenig über die Suche nach alternativen Arbeitsplatzangeboten.
Der Brisanz der Klemme, in der Witten finanziell und wirtschaftlich steckt, war sich die amtierende und dirigierende politische Klasse seit langem bewusst.
Ansätze gegenzusteuern gab es sogar gedruckt. In einem 47 Seiten umfassenden kommunalpolitischen Aktionsprogramm brachte der
Stadtverbandsvorstand der CDU, Grundsätze von 1978 aufgreifend, die dringlichsten Ziele "im Hinblick auf Stadtentwicklung, Wirtschaft und Finanzen,
soziale Sicherung, Bildung und Freizeit", zur Sprache. Darin wurde "die phantasielose Wiederaufbauplanung" im Allgemeinen und die Gestaltung des
Berliner Platzes im Besonderen als "grotesk" kritisiert und eine "neue Gestaltung der Stadtmitte (Marktplatz und Kornmarkt) als längst überfällig bezeichnet",
so Schoppmeyer in seiner 2018 wieder aufgelegten Chronik der Wittener CDU. Erkannt wurde auch die Notwendigkeit, "auf die Ergebnisse der strukturellen
Veränderungen im gewerblichen Bereich (vor allem in der Stahlindustrie und Metallverarbeitung) angesichts des Verlustes an Arbeitsplätzen zu reagieren."
Bau eines wirklichen Innenstadtrings
Chancen sahen die CDU-Vertreter in "der Lage Wittens zwischen drei Universitätsstädten (Bochum, Dortmund, Hagen) sowie der Etablierung der privaten Universität
Witten-Herdecke in der Stadt selbst" und empfahlen als Richtlinie für eine künftige Stadtentwicklung, "Witten als eine betont familienfreundliche Wohnstadt
am südlichen 'grünen' Rande des Ballungsgebietes auszubauen, und zwar mit vielschichtigem mittelständischen Gewerbe und einem besonders stark zu fördernden
Dienstleistungssektor." Von weiterem "Geschossbau" wurde wegen der sinkenden Bevölkerungszahl abgeraten, Eigenheimbau sollte "in besonders attraktiven Lagen"
unterstützt werden. Einen visionären Blick riskierten die Autoren auch auf den motorisierten Verkehr und rieten, ihn "durch den Bau eines wirklichen Innenstadtrings
sinnvoller" zu gestalten. Verwirklichen wollten sie ihren Plan "unter Rückkauf der an die Thyssen AG abgegebenen Gasstraße". Eine Verbindung zur
Crengeldanzstraße sollte dann über eine neu anzulegende Straße im Grenzbereich zum Bundesbahngelände an der Breite Straße und weiter
über die Kesselstraße erfolgen.
Stadtteil mit Häusern und Straßen bis runter an die Ruhr
Ein sonniger Vormittag im April, in seinem Arbeitszimmer lotet Professor Schoppmeyer noch einmal die Entwicklung der Stadt Witten nach Situationen und Gelegenheiten aus,
in und bei denen die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung anders hätten entscheiden können. Und vielleicht zum Wohl der Bürger auch anders hätten
entscheiden müssen. Es wurden sogar, sagt er, Pläne diskutiert, auf dem Gelände des Edelstahlwerks einen ganz neuen Stadtteil mit Häusern und Straßen
bis runter an die Ruhr anzulegen. Die Dynamik, die ein derart kühner Plan hätte entfachen können, übertraf damals offenbar alle Vorstellungen. Der Phoenix-See
in Dortmund schlummerte noch tief unter der Hermannshütte der Hoeschkonzerns in Hörde. Die Idee von einem echten "Witten an die Ruhr"
wurde vergraben, bevor sie die Öffentlichkeit erreichte und mit Bürgerbeteiligung konkretisiert werden konnte. Schoppmeyer weiß davon auch nur als Ohrenzeuge.
Als ehemaliges CDU-Mitglied und zeitweise stellvertretender Kreisvorsitzender war er an dem 47-seitigen Aktionsprogramms federführend beteiligt.
Ob die Vision von einem Thyssenquartier wenigstens parteiintern auf irgendeine Resonanz stieß, bleibt offen. Eine Anfrage beim Stadtverband der CDU blieb unbeantwortet.
Außerhalb der Parteigrenzen standen solche Gedankenspiele erst recht nicht zur Wahl. "Nie was von gehört", sagt Altbürgermeister Lohmann am Telefon.
Ganz verschwunden scheint die Idee
trotzdem nicht. "Witten an die Ruhr" nennt auch Andreas Müller, städtischer Verkehrsplaner, sein Konzept, mit dem er "die Schranke des Stahlwerks
zwischen Innenstadt und Flussufer" überwinden möchte. In wesentlich abgespeckter Form allerdings. Durch einen Tunnel unter dem Ruhrdeich
sollen Fussgänger und Radfahrer
eines Tages ungehindert von der Innenstadt in die Ruhrauen gelangen können
[☞].
Langläufiger und mit frühen Warnungen gespickter Weg in die Verschuldung
Vor dem Hintergrund der aktuellen desaströsen Finanzmisere könnte Witten von einem Projekt Thyssenquartier nicht mal träumen. Diese gestalterische Ohnmacht
ist nicht etwa eine Folge schicksalhaft verketteter Umstände. Verantwortliche in Ämtern und Funktionen haben die Stadt mit dieser Ohnmacht befrachtet, das belegen die
vielen Sitzungsprotokolle, Verwaltungsvorlagen, Ratsbeschlüsse und Haushaltszahlen, die Schoppmeyer ausgewertet hat. Entgegen vieler, zigfach wiederholter
Warnungen fast aller Kämmerer wurden immer höhere Ausgaben beschlossen und bewilligt, während die Einahmen infolge nachlassender Wirtschaftskraft und
Bevölkerungsschwund sanken. Wenn nicht tiefgreifend gegengesteuert werde, mahnte Kämmerer Dr. Meier 1994, werden die Haushaltsprobleme "in diesem Jahrtausend
ungelöst bleiben". Wie Recht er behielt, belegt sein Nachfolger Kleinschmidt, der seit 2003 bei fast jeder Vorlage seines Haushalts dieselben sieben Gründe
auftischt, die für die explodierenden Defizite verantwortlich sein sollen. "Indessen legt der langläufige und mit frühen Warnungen gespickte Weg in
die Verschuldung die begründete Vermutung nahe," meint dagegen Schoppmeyer, "dass man vor Ort viel zu lange die Augen vor dem absehbaren Ergebnis verschloss."
"Gewisse Chancen versäumt"
Ebenso bewusst, wie die Politik immer defizitärere Haushalte beschloss und genehmigte, verwarfen die Verantwortlichen denkbare Möglichkeiten einer städtischen
Transformation, wie sie die CDU in ihrem Aktionsprogramm formulierte, allerdings nie mit Nachdruck einforderte oder gar vorantrieb. Versäumnisse
fahren eine Stadt ebenso vor die Wand wie wahlloses Verbreitern von Straßen, Abholzen ganzer Alleen, Abreißen von historischer Bausubstanz, Fehlplanen von Citypassagen,
Klammern an einseitige, starre Industriezweige oder eben Verschleudern von Geld, das nicht vorhanden ist.
Wann und ob überhaupt sich die Stadt von dem erholen wird, was Politik und Verwaltung jahrzehntelang vermurkst haben, steht in den Sternen. Und die schweizer
Schmolz und Bickenbach AG? Viel Mühe verschwendet die heutige Besitzerin der von einer denkbaren Flächenumnutzung verschont gebliebenen
Industrieanlage zwischen Bahngleisen und Ruhrdeich nicht darauf, wie sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden will in der Stadt,
die einen Produktionsstandort vielleicht wider besserer Optionen verteidigt. Auf
eine Anfrage nach der aktuellen Zahl der Beschäftigten und mittelfristigen Plänen mit dem Standort und der Belegschaft, lässt die Geschäftsführung
in Witten durch ihre Assistentin, Julia Schneider,
per Mail mitteilen, "dass wir Ihrem Anliegen nicht nachkommen werden" und bittet, "von weiteren Anfragen dieser Art Abstand zu nehmen."
Witten ist auf den weltweit jonglierenden eidgenössischen Stahlkonzern angewiesen, wahrscheinlich existenziell abhängig,
dessen Schwerlast-Transporte sich auch durch die eigentlich verkehrsberuhigte
Husemannstraße quälen, unter vergeblichem Protest der Anwohner (WAZ, 26.10.2018).
"Das Rathaus hat gewisse Chancen versäumt oder selbst zugebaut", beschrieb ein WAZ-Journalist die städtebauliche Entwicklung Ende der 1970er Jahre.
Und: "Die Bürger inclusive der potenten Steuerzahler haben es ohne Korrektur geschehen lassen." |
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