StartZE!T   AmtsZE!T   VollZE!T   BestZE!T   NeuZE!T   RedeZE!T   TeilZE!T   AusZE!T   CampusZE!T 
 Postfach   Termine   Marktplatz   Impressum   Inhaltsübersicht 


STADTLEBEN UND STADTGESELLSCHAFT
2018: 100 Jahre Novemberrevolution und 80 Jahre Reichspogromnacht
Interview mit Prof. Heinrich Schoppmeyer

NS-Zeit auch "Projekt der jungen Generation"

Von Walter Budziak

Wenn ein Name mit Arbeiten zur Wittener Stadtgeschichte verbunden ist, dann Prof. Heinrich Schoppmeyer. Erst vor sechs Jahren hat er mit "Witten - Geschichte von Dorf, Stadt und Vororten", eine über 1000-seitige Abhandlung in zwei Bänden vorgelegt, das als lokalgeschichtliches Standardwerk bezeichnet wird. Dem "Nationalsozialismus in Witten" ging Schoppmeyer aber schon 1985 auf über 250 Seiten auf den wissenschaftlichen Grund.


Prof. Heinrich Schoppmeyer: verblüfft, wie wenig manche Gesprächspartner die jüngste Vergangenheit kennen. - Foto: wab
Geschichte, Germanistik, Philosophie, seine akademische Laufbahn begann Heinrich Schoppmeyer mit einem Studium an der Universität Münster, das er Anfang 1960 mit dem Staatsexamen für Lehrer an Gymnasien abschloss. 1966 promovierte er in Münster mit einer Arbeit über das Verhältnis zwischen Städten und Landesherr am Beispiel eines mittelalterlichen Territoriums, des Hochstifts Paderborn. Von 1969 bis 2004 lehrte er an der Universität Bochum Geschichte des Mittelalters und Westfälische Landesgeschichte. Seit 1981 ist er Mitglied der Historischen Kommission für Westfalen und Mitarbeiter des Instituts für vergleichende Städtegeschichte (Münster).

In Witten ließ der heute 83-Jährige als Mitglied des Vereins für Orts- und Heimatkunde in der Grafschaft Mark (VOHM) die Öffentlichkeit an seinen Kenntnissen teilhaben, die Liste seiner wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte Westfalens in den seit der Gründung 1886 erscheinenden Märkischen Jahrbüchern ist lang. Inzwischen zeichnete der VOHM den gebürtigen Wittener auch mit dem Ehrenvorsitz aus.

Das Porträt von Altbundeskanzler Konrad Adenauer hängt an der Wand seines Arbeitszimmers. Als der Stadtverband der CDU seine Geschäftsstelle in Witten schloss, sicherte Schoppmeyer das Archiv der Orts-CDU für den Geschichtsverein. An dem gerahmten Schwarz-Weiß-Foto des ersten Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland hatte niemand Interesse. Zum Wegwerfen war es Schoppmeyer zu schade, er nahm es mit zu sich in sein Büro.

StadtZEIT Das Jahr 2018 ist ein Schwergewicht unter den Jährungen, außer dem Beginn und dem Ende des 30-jährigen Krieges, der Novemberrevolution 1918, außer der Pogromnacht 1938 und der 68er-Studentenbewegung böten 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland, 150 Jahre Zentralrat der Katholiken oder die Gründung der Republik Korea vor 70 Jahren und viele andere Weltereignisse reichlich Anlässe, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Google startete vor 20 Jahren, die jüngste Weltwirtschaftskrise sorgte vor zehn Jahren für Turbulenzen an den Aktienmärkten, da kommt einiges zusammen, was war spontan für Sie persönlich davon das wichtigste Ereignis?

Schoppmeyer Das ist ja eine kaum übersehbare Menge an Jährungen. Man kann sagen, dass solche Ereignisse, die einen sehr langen Schatten geworfen haben, diejenigen sind, die man als Historiker wahrnimmt. Ein langer Schatten kann natürlich nur dann fallen, wenn die Ereignisse weiter zurückliegen. Weshalb die 20 Jahre Google, was ich gerade mit Erstaunen vernommen habe, mich im Sinne eines Jubiläums noch nicht erreicht haben, obwohl zweifellos dieses Ereignis die gegenwärtige Welt mehr aufwirbelt, als der Beginn des 30-jährigen Krieges oder auch als der Hitlerputsch von 1923. Das zweite Kriterium für die Bedeutung eines Ereignisses ergibt sich aus der Antwort auf die Frage, welche historischen Linien sich in ihm kreuzen, welche Weichenstellungen sich daraus ergeben und welche kurz- und langfristigen Wirkungen sich daraus für die Folgezeit bis hin zum Denken und Handeln der Gegenwart ableiten lassen.

1918 das Ende bürgerlicher Gewissheiten

StadtZEIT Welches der Ereignisse, die sich 2018 jähren, hat Sie denn persönlich bei Ihrer Lehre und Forschung am meisten gefesselt?

Schoppmeyer Als Mediävist natürlich keines der beiden in Frage stehenden Ereignisse. Davon abgesehen: In jedem Fall alles im Zusammenhang mit dem Ende des langen 19. bürgerlichen Jahrhunderts zwischen 1789 („Freiheit, Gleichheit, Büderlichkeit“) und seinem Ende 1918, ein Jahrhundert, das nach einem furiosen Auftakt ab 1815 vergleichsweise stabil gewesen ist bis März 1848, das dann aber dem Ende der bürgerlichen Gewissheiten entgegensah. Es ist heute für viele sehr schwer vorstellbar, welchen Einschnitt dieses Jahr 1918 beziehungsweise die Ergebnisse, die es hervorbrachte, bedeutet hat, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa insgesamt. Zu erinnern ist an den Zusammenbruch von vier Imperien: des Osmanischen Reiches, des zaristischen Russland, des österreichisch-ungarischen Habsburger Reiches und des Deutschen Reiches, jeweils mit weit reichenden Folgen und mit schweren Turbulenzen für den gesamten Orient, für den russischen Einflussbereich und Ostmitteleuropa, für den Balkan und auch für Deutschland, und zwar bis heute. Zweitens: Die Menschen waren mit Sicherheit während des Krieges, vor allem, wenn sie persönlich betroffen waren, und noch tiefgreifender am Ende des Krieges von der Tatsache schockiert, wie viele Millionen Tote dieser Weltkrieg gekostet hat, auf allen Seiten. Das hatte man sich in einer zivilisierten Gesellschaft, von der man vor 1914 geglaubt hat, sie sei gar nicht erschütterbar, nicht vorstellen können. Das trifft für Frankreich zu, das gilt für England und alle anderen. Dass diese Ereignisse in Frankreich lange nachwirkten, kann man indirekt daran ermessen, dass zum Beispiel die französische Armee 1939/40 und auch die französische Politik nicht zum Widerstand entschlossen waren. Sie waren pazifistisch und kriegsmüde. Und auch Chamberlain, der viel gescholtene britische Premierminister, hat ja lange angesichts Hitlers Herausforderungen gezögert. Das alles waren Reaktionen auf den Schrecken, der mit dem Ende der Ersten Weltkriegs in die Leute gefahren war. Der Krieg 1914 und sein Ende 1918 hatten nichts weniger als den Zusammenbruch der bürgerlichen Zivilisation und ihrer historisch tief verankerten Normen und Wertvorstellungen bewirkt. Dieser Vorgang hat auch diejenigen getroffen, die, sozial gesehen, nicht unbedingt dem damaligen Bürgertum zugerechnet werden müssen. Viele Anhänger der Sozialdemokratie waren längst ins Kleinbürgertum übergewechselt und hatten ethische Vorstellungen und Normen ihrer bürgerlichen Vorbilder übernommen, ohne kund zu tun, dass sie es getan hatten. Zum Dritten: Mit dem Beginn des, wie man gesagt hat, kurzen 20. Jahrhunderts 1918 oder auch schon 1917 begann die Einengung des europäischen Handlungsspielraums durch den Eintritt der Sowjetunion und der USA in die europäische Politik, zunächst als Mitspieler im Hintergrund, dann durch aktive Teilhabe. Das war ein einschneidendes Ereignis, das eine im 16. Jahrhundert beginnende lange Epoche europäischer Politik an ein Ende brachte.

Faktisch ist geholfen worden

StadtZEIT Die Novemberrevolution 1918 und die Pogromnacht 1938 gegenübergestellt, welches der beiden Ereignisse war für Witten einschneidender?

Schoppmeyer Das Fazit aus meinen Ausführungen zu Ihrer Frage lautet wie zuvor: Ich halte 1918 für das weitaus wichtigere Datum, auch speziell für Witten. Die Wittener sahen sich plötzlich einer Lage gegenüber, mit der viele nicht gerechnet hatten und von deren Folgen sie sich teilweise überfahren fühlten, so sehr sie auch das Ende des Krieges herbeigesehnt hatten. Viele trauerten um ihre gefallenen Angehörigen, nicht wenige zurückkehrende Frontsoldaten fanden sich gar nicht mehr oder nur mühsam im zivilen Leben wieder zurecht. Sie kennen für die Kriegsteilnehmer die Metapher der verlorenen Generation. Dieses Ereignis und seine auch materiellen Folgen traf fast alle. Letzteres kennzeichnet den ersten Unterschied zu 1938. Die Reichspogromnacht richtete sich gegen eine abgegrenzte Minderheit. Wer nicht zu ihr gehörte oder keine Kontakte zu ihr pflegte, fühlte sich physisch nicht direkt bedroht. Das änderte nichts an der absoluten Verwerflichkeit der Aktion, die hätte jeder empfinden können. 1938 ging ein großer Teil der Bevölkerung in Abwendung von der moralischen Herausforderung sehr schnell zur Tagesordnung über. Die Bevölkerung hier hat sich nolens volens mit dem Regime angefreundet oder es zumindest so hingenommen. Gerade die außenpolitischen Erfolge des Regimes 1938 (Anschluss Österreichs und des Sudentenlandes) und die Reduktion der Arbeitslosigkeit bis zur Vollbeschäftigung vor allem, aber nicht nur durch die Rüstungsindustrie, hatten ein neues Hochgefühl erzeugt. Wie ich aus den Erinnerungen von Karl Wiederhold hier aus Bommern weiß, waren auch Sozialdemokraten zum Ärger ihrer ehemaligen Genossen übergelaufen. Mich hat das nicht überrascht. Wenn man die Wahlergebnisse in der Schlussphase der Weimarer Republik miteinander vergleicht, sieht man, dass ein Transfer stattgefunden hat. Abgesehen von wenigen hatten die meisten einfach Angst vor physischer Gewalt. Zu den wenigen gehörten einige Annener Bergleute, die 1938 im Salinger Feld die Familien der Gebrüder Rosenthal vor den Schlägern retteten, oder der Zahnarzt Wittkopp, der dem Arzt Dr. Böheimer Unterschlupf bot. Offizielle Reaktionen der örtlichen Kirchen sind mir nicht bekannt. Faktisch ist geholfen worden, etwa durch den Pfarrer der heutigen Franziskuskirche und durch das Marienhospital. Generell gilt: Die evangelische Kirche in Witten war gespalten, Pastor Busch, ein Gegner der sogenannten Deutschen Christen, hielt Gottesdienste im Saal Voss an der Ruhrstraße. Auf der anderen Seite hat sich der Pastor und spätere Superintendent Richter weitgehend mit den Nationalsozialisten verbunden. Die katholische Kirche war vor und nach 1933 eher contra. Sie geriet gerade 1938 in Konflikte wegen des Kampfes um konfessionelle Schulen und wegen ihrer Jugendverbände. Als indirekte Distanzierung kann man die Tatsache werten, dass nach 1933 die Zahl der Kommunikanten in der Marienkirche anstieg. Umgekehrt muss man sehen, dass der Nationalsozialismus in Witten zu guten Teilen ein Projekt der jungen Generation war. Die Amtsleiter der NSDAP waren zu einem hohen Teil unter 40 beziehungsweise 35 Jahre alt. Offensichtlich war der Aufstieg des Nationalsozialismus teilweise mit einem Generationenkonflikt verbunden. Er verstand sich nach Hitler im doppelten Sinn als "junge Kraft", die an "alte Größe" wieder anschließen wollte.

Jeden Briefkasten mit 'Heil Hitler' begrüßen

StadtZEIT Waren die Ereignisse 1918 und 1938 in Ihrem Elternhaus ein Thema?

Schoppmeyer 1918 und die Folgen ja, ganz stark, weil in der Sicht der Familie dadurch das kleine Ersparte, das die Familie hatte, in Luft aufgelöst wurde. Von meinen großelterlichen Vorfahren war der eine Großvater angelernter Fabrikarbeiter, der andere Schlossermeister bei Krupp in Annen. Der hatte Geld gespart, um in der sogenannten Kruppschen Kolonie an der Holzkampstraße ein Häuschen zu kaufen. Mit der Inflation waren seine Ersparnisse zerronnen, Krupp schloss seine Pforten, mein Großvater war arbeitslos. Die soziale Lage beider Großelternfamilien war miserabel. Meine Eltern heirateten 1932, als die Arbeitslosigkeit alle bisherigen Rekorde schlug. Mein Vater begann 1917 eine Lehre bei der Eisenbahn und arbeitete dann bis 1933 und darüber hinaus als nicht verbeamteter Hilfsbetriebsassistent. Meine Mutter musste mit der Heirat ihre Stelle als Sekretärin bei der Märkischen Seifenindustrie aufgeben, weil sogenanntes Doppelverdienertum nicht geduldet wurde. Die mangelhafte soziale Absicherung und die prekäre Finanzlage war eine Grunderfahrung meiner Eltern. Was 1938 angeht, kenne ich von meinem Vater die Äußerung, die sich aber nicht direkt auf den Judenpogrom bezog, sondern ganz allgemein: "Wenn das so weitergeht, müssen wir demnächst jeden Briefkasten mit 'Heil Hitler' begrüßen." Eine Schwester meiner Mutter berichtete sehr ausführlich, was sie am 9./10. November 1938 von ihrer Wohnung in der Ruhrstraße 29 gesehen hatte.

StadtZEIT Die Rüstungsindustrie in Witten haben Sie schon erwähnt, entdecken Sie im Vergleich zu anderen Ruhrgebietsstädten weitere Besonderheiten im Zusammenhang von 1918 und 1938?

Örtliche Tradition des Antisemitismus - Bahnhofstraße in Jerusalemer Allee umbenennen

Schoppmeyer Die Wittener haben immer versucht, sich als eine Insel zu definieren, als eine eigene Republik. Nur derjenige, der beteuerte, dass er ein echter Wittener sei, wurde akzeptiert. Das ist eine dörfliche Denkweise. Sie zeigte sich beispielsweise auch 1933. Der erste nationalsozialistische kommissarische Bürgermeister kam aus Witten, Sondermann hieß er. Er besaß den Ehrgeiz, als regulärer Bürgermeister eingesetzt zu werden, verfügte aber dafür nicht über die Fähigkeiten oder über zu schlechte Verbindungen. Nach Witten kam dann ein Fremder, der Dortmunder Dr. Zintgraff, Jurist und vorher in der Industrie beschäftigt. Zintgraff wurde über Jahre hinweg massiv bekämpft. Als kleiner und etwas schmalbrüstiger Mann entsprach er nicht so ganz den Idealvorstellungen von einem germanischen Recken, ihm wurde dann nachgesagt, er sei homosexuell, nach 1934 eine lebensgefährliche Anschuldigung. Mittels eines Parteigerichtsverfahrens wehrte er sich gegen seine Verleumder und gewann den Prozess. Ein weiteres Spezifikum war die kleinstädtische Struktur Wittens. Viele kannten sich, nach 1933 wurde daher auch eine Reihe persönlicher Rechnungen beglichen, teilweise politisch, teilweise aber auch einfach privat begründet. Eine dritte Auffälligkeit, in einigen Positionen der Wittener NS-Führung tummelten sich, zumindest in der Anfangsphase, eine Reihe gescheiterter Existenzen. Der erste Standartenführer der SA sowie auch sein Stellvertreter waren gescheiterte Sportlehrer ohne Anstellung, um nur zwei Beispiele zu nennen. Viertens: Es gab in Witten eine örtliche Tradition des Antisemitismus, die aus der Zeit um 1890 herrührte. Einer der Führer der deutschen Antisemiten war ein Wittener, nämlich der Arzt Dr. König, 1902 verstorben, Bruder des Superintenden und Pastors der Johanniskirche. In einer der Ausgaben der antisemitischen Zeitung „Westfälische Reform“ bemerkte er, die Wittener Bahnhofstraße müsse in Jerusalemer Allee umbenannt werden, weil sie von zahlreichen Geschäften jüdischer Kaufleute gesäumt sei.

Mittelschichtiges Bürgertum im "Hohenzollernviertel"

StadtZEIT Im Zusammenhang mit beiden Ereignissen, 1918 und 1938, scheinen neben Witten nur Annen, das 1918 noch eigenständig war, und vielleicht Bommern eine Rolle gespielt zu haben. Woran lag das?

Schoppmeyer Witten und Annen waren von Umwälzungen der Bevölkerungsstrukturen und politischen Machtverhältnisse am meisten betroffen. In Witten war, besonders vor der kommunalen Neugliederung 1929, das bürgerliche Element sehr viel stärker ausgeprägt als etwa in Annen. Das ist heute noch sichtbar, wenn Sie die Ruhrstraße entlanggehen oder sich den Bereich Beethovenstraße, Uthmannstraße, Mozartstraße, Gartenstraße zwischen Bahnhofstraße und Breitestraße ansehen, den ich unter weiterer Berücksichtgung der ehemaligen Gedächtniskirche und des Siegesdenkmals auf dem ehemaligen Königsplatz (seit 1945 Karl-Marx-Platz) 1989 "Hohenzollernviertel" genannt habe. Hier wohnte vornehmlich ein mittelschichtiges Bürgertum, das mit der Industrialisierung aufgestiegen war und gegen Umsturzgedanken einen sehr viel stärkeren Widerstand als beispielsweise Annen leistete, wo ein solches mittelschichtiges Bürgertum kaum existierte. Als Annen 1929 Witten zugeordnet wurde, kippten hier die alten parteipolitischen Proportionen. Das Wittener Bürgertum konnte die Stadtverordnetenversammlung nicht mehr so dominieren wie zuvor.

StadtZEIT Die Novemberrevolution 1918 verlief in Witten wie auch in Annen und Bommern eher verhalten, fast brav. Gab es Städte in der Umgebung mit heftigeren Reaktionen?

Schoppmeyer Ich beschränke meine Antwort auf die Ereignisse um den 9. November 1938 und blende Folgeereignisse 1919/20 aus, um nicht ins Ungemessene zu geraten. Aus Städten vergleichbarer Strukturen sind mir heftigere Reaktionen nicht bekannt, aus anderen Ruhrgebietsstädten aber schon. Fast überall ging es zuvorderst um die Sicherung der Versorgung der kriegsmüden und teilweise hungernden Bevölkerung, dann um Verbesserung der finanziellen Lage der Arbeiterschaft, Verkürzung der Arbeitszeit, Verbesserung der Arbeitsbedingungen und erst im Endziel um eine Änderung der Wirtschaftsverfassung. Dazu gab es im November/Dezember 1918 Streiks?

StadtZEIT Zum Beispiel?

Schoppmeyer Etwa in Essen oder stärker in Hamborn oder auch in Herne wegen der starken Berg- und Montanarbeiterkonzentration.

National getönte Genugtuung über das innen- wie außenpolitisch Erreichte

StadtZEIT 1918 stand die Bevölkerung auch in Witten vor den wirtschaftlichen und seelischen Trümmern eines verheerenden, verlorenen Krieges, trotzdem blieben die revolutionären Aktionen in einem vergleichsweise bescheidenen Rahmen. 1938 müsste der persönliche existenzielle Leidensdruck der Wittener weitaus geringer gewesen sein, trotzdem waren die Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger wesentlich massiver als 20 Jahre zuvor gegen die politische Obrigkeit. Warum?

Schoppmeyer Mit dem für manche enttäuschenden Ende des Krieges und wegen der tiefen Friedenssehnsucht wegen der problematischen Versorgungssituation wandte man sich 1918 dem Nächstliegenden zu. Die vom Wittener Arbeiter- und Soldatenrat ausgegebene Losung "Haltet Ruhe und Ordnung" traf die Notwendigkeit im Zusammenbruch der alten Ordnung ziemlich genau, denn ein Chaos russischen Musters war für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung kein Ziel. Das hat die damalige SPD klar erkannt. 1938 war die Situation anders. Die Bevölkerung hatte seit dem nicht nur im nationalen Lager als Demütigung empfundenen Versailler Vertrag (1919) mancherlei Erfahrungen gesammelt. Inflation, französische Besatzung 1923 bis 1925 und die Weltwirtschaftskrise 1929 hatten sich tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben. Zweifellos empfand man auch 1938 eine national getönte Genugtuung über das innen- wie außenpolitisch Erreichte, das die Mehrheit dem Regime gutschrieb. Man sah vor allem dies und anderes weniger oder gar nicht. Die sogenannte Reichspogromnacht war bekanntlich von Goebbels mit Billigung Hitlers "angeregt". Die Aktionen waren parteiadministrativ gesteuert und von Gliederungen der Partei mit eigenen Zugaben durchgeführt worden. Die meisten Menschen waren im Augenblick verstört, nahmen den Pogrom als Gewalt wahr, mit der man wenig zu tun haben wollte. Es gab Nutznießer, die von Plünderungen und anschließenden Enteignungen profitierten. Das waren nicht nur diejenigen, die von einem Tag auf den nächsten jüdische Geschäfte übernahmen, sondern auch die, die ihren jüdischen Nachbarn Wohnzimmerschränke unter Preis abkauften.

StadtZEIT Wie groß war in Witten der Teil der Bevölkerung, der aktiv Gewalt ausübte, und wie groß war der Teil, der zugesehen, weggeschaut oder sogar den Opfern geholfen hat?

Schoppmeyer Dazu kann man nur etwas sagen, so weit es die Organisationen angeht. In Witten lebten ungefähr 4 000 Mitglieder der NSDAP ...

StadtZEIT … von damals ...?

Schoppmeyer … 70 000 Einwohnern. Das waren teils mehr als in anderen Städten, teils weniger. Hagen und Bochum zum Beispiel hatten prozentual sehr viel mehr NSDAP-Mitglieder, aber die genauen Zahlen habe ich im einzelnen nicht im Kopf. Witten lag ungefähr im Mittelfeld. Durch die Hitlerjugend waren zusätzlich natürlich sehr viel mehr Menschen, die gesamte junge Generation, zwangsweise erfasst. Und man darf die Einwirkungen der Kinder und Jugendlichen auf ihre Familien nicht unterschätzen. Dadurch wurden Spannungen in die Familien getragen. Manche Eltern wussten nicht mehr, ob ihre Kinder schweigen konnten oder ob sie erzählten, was ihre Eltern unter Umständen kritisch geäußert hatten. Festzuhalten ist jedoch, längst nicht alle Mitglieder der NSDAP oder ihrer Gliederungen beteiligten sich an dem Pogrom.

StadtZEIT Eine linke Revolution wie 1918 erscheint heute in weiter Ferne, wenn nicht gar undenkbar. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr, dass so etwas wie 1938 heute auch in Witten noch einmal aufgerufen werden könnte?

Schoppmeyer Das ist keine Frage an den Historiker, das ist eine Frage an einen Prognostiker, der ich nicht bin. Historiker, hat Jacob Burckhardt formuliert, sind rückwärts gewandte Propheten. Dennoch sage ich als Staatsbürger: Ich schätze die Möglichkeit als nicht hoch ein. Gegenwärtig wird von vielen Seiten alles Mögliche zu je eigenen Zwecken instrumentalisiert. Mich stört, dass, bevor Dinge faktisch geklärt wurden, Stellungnahmen im Sinne einer Meinung verlangt werden. Ich möchte nicht in der Rolle eines Politikers sein, der, nachdem vor einer halben Stunde irgendetwas passiert ist, zu einer bindenden Stellungnahme aufgefordert wird. Er kann sie, bei Licht betrachtet, gar nicht geben, weil er die Tatsachen so schnell gar nicht erheben kann. Wenn man die Leitartikel in Zeitungen liest, erkennt man, dass sie häufig auf wackligen Füßen stehen. Als Historiker macht man sich sofort klar, wie viele Einzelrecherchen notwendig wären, um in einen Korridor des sehr Wahrscheinlichen zu gelangen. Ich sage nicht: der Wahrheit. Die findet man nicht. So viel zu Prognosen. (lacht)

Erhebliche demokratische Repräsentationslücke

StadtZEIT Tut die Politik, tut die Gesellschaft vor Ort in Witten genug, um Vorfällen wie denen 1938 entgegenzuwirken?

Schoppmeyer Ich beginne bei der veröffentlichten Meinung. In Witten gibt es nur noch eine Tageszeitung, die WAZ (Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Anm. d. Red.). Wir alle sollten dafür werben, dass wenigstens diese Zeitung auf Dauer erhalten bleibt. Sie hat wegen ihrer lokalen Monopolstellung die Aufgabe, ein möglichst breites und ungefiltertes Nachrichtenspektrum und eben solche Meinungsbilder zu liefern. Das ist aus vielen Gründen nicht einfach, auch, weil manche Abonnenten mit Kündigung reagieren, wenn Artikel der Zeitung nicht der ganz persönlichen Linie entsprechen. Da von einer bestimmten Abonnentenzahl die wirtschaftliche Existenz der Zeitung abhängt, müssen die Redaktionen in Essen wie in Witten sehr viel tun, um den Abonnentenstand zu halten. Schroffe Polemik gegen Positionen der einen oder anderen Richtung, sofern diese innerhalb eines demokratischen Rahmens bleiben, verbieten sich daher. Auch die Politik muss mit Konkurrenzen rechnen, neigt aber, um sie auszuschließen, gelegentlich zu Polemik, zu moralischer Überheblichkeit gegenüber der Konkurrenz und manchmal einfach zu Beschimpfungen. Ich habe mich bei der Analyse der Wahlergebnisse in Witten seit 1946 gefragt, warum in den letzten Jahrzehnten die Zahl der Wahlenthaltungen fast kontinuierlich gestiegen ist. Ursprünglich hatte ich angenommen, zu vielen Wählern sei es einfach gleichgültig, wer oder was gewählt werde, oder viele seien einfach zu bequem, ihrem Wahlrecht zu genügen. Inzwischen nehme ich an, dass seit längerer Zeit eine erhebliche demokratische Repräsentationslücke herangewachsen ist. Die hohe Nichtwählerzahl der letzten zwei Jahrzehnte lässt sich durch einen Mangel an Alternativangeboten erklären. Schließlich die Gesellschaft: Manche sind verärgert, dass ihre Sorgen, berechtigt oder unberechtigt, nicht wahrgenommen werden oder, schlimmer noch, von denen, die etwas tun könnten, nicht wahrgenommen werden wollen. Diese Situation kann in eine massive Vertrauenskrise umschlagen

Überakzentuierung des Individuellen

StadtZEIT Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Schoppmeyer Ein großes Bedürfnis vieler Leute ist das nach öffentlicher Sicherheit. Wenn Sie sich an die Ursprünge des Staates erinnern, dann bedeutet Staat die Verantwortung, für die Sicherheit seiner Gesellschaft zu sorgen, und zwar in einem ganz elementaren existenziellen Sinne. Später sind noch andere Aufgaben hinzugekommen, das will ich jetzt nicht weiter ausführen. Zu viele sehen dieses Elemetarbedürfniss nicht mehr befriedigt. Sie befürchten zudem, dass jene vorstaatlichen Werte, die mit der Geschichte Europas und Deutschlands verbunden sind, keine sichere Zukunft mehr besitzen könnten. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das Dictum des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst Wolfgang Böckenförde, dass der Staat auch von Voraussetzungen lebt, die er nicht selber geschaffen hat.

StadtZEIT Sie haben viele Jahre an Universitäten gelehrt, werden Ereignisse wie die 1918 und 1938 und die sich daraus ergebenden Fragen von den Studierenden heute noch angemessen reflektiert?

Schoppmeyer Da ich nicht mehr aktiv tätig bin, kann ich nur Vermutungen äußern. Ich denke, der Grad der Reflexion ist zurückgegangen. Wir erleben, aus anderen Gründen, eine Zeit der Individualisierungen, und für Individualisierung bezahlt man einen Preis. Der besteht darin, dass man sich um Dinge des Gemeinwesens nicht mehr so kümmert, wie man das früher gewohnt war. Das Verhältnis zwischen individuellen Rechtsansprüchen, Ansprüchen überhaupt, einerseits, und einem selbstverpflichtenden Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft auf der anderen Seite stimmt nicht mehr. Wir erleben inzwischen eine Überakzentuierung des Individuellen. Das merkt man an vielen Stellen, etwa daran, dass die Parteien Mitglieder verlieren. Oder dass Vereine sich auflösen müssen. Die Ersetzung eines stabilen Kontinuums im Rahmen einer bestimmten Gemeinschaft zugunsten von zufälligen Projekten macht große Fortschritte.

StadtZEIT Das, meinen Sie, ist auch für die Reflexion historisch so einschneidender Ereignisse wie 1918 und 1938 relevant?

Schoppmeyer Ja. Man denkt häufiger in recht kurzfristigem Rahmen. Ich bin immer wieder verblüfft, wie wenig manche Gesprächspartner in Diskussionen die ältere oder jüngere Vergangenheit oder auch nur die des letzten halben Jahres kennen. Über Gegenwärtiges und Zukünftiges nachdenken kann man nur, wenn man außer Gegenwärtigem und zukünftig Wünschbarem auch die Erfahrungen der Vergangenheit einbezieht.

StadtZEIT Herr Prof. Schoppmeyer, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Interview und Fotos (3): Walter Budziak, 4.11.2018

Alle Beiträge der Reihe:
Nationalsozialismus auch in Witten "ein Projekt der jungen Generation", Interview mit Prof. Heinrich Schoppmeyer
Zeichen einer neuen Zeit - 100 Jahre Novemberrevolution 1918
Mischung brodelnder Gemüter - 80 Jahre Reichspogromnacht