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Unterricht am Ruhrgymnasium vor 1970
Lehrerhände schlugen zu

Text und Fotos (4): Walter Budziak, 3.7.2021

„Kopfschmerzen? Zahnschmerzen? Ohrenschmerzen?“ Wer verneinte, bekam eine Ohrfeige, die saß. Brillenträger durften vorher noch ihre Brille abnehmen, ansonsten war Oberstudienrat Friedrich-Karl Kreuger, Deutsch und Erdkunde, nicht zimperlich. Die roten Fingerabdrücke waren auf der Wange noch am nächsten Tag zu erkennen. Neben verbalen Herabsetzungen gehörten Körperverletzungen von Lehrerhand am "Städt. Ruhr-Gymnasium" zum Unterrichtsalltag. Der geschichtliche Rückblick auf der Internetseite der Schule hakt das Thema beifällig ab. Eine Stellungnahme oder gar Entschuldigung bei den Betroffenen fand bis heute nicht statt.


Ruhrgymnasium von der Breite Straße aus: bis 1970 auch Anstalt einer "Schlagepädagogik" - Foto: wab
Mit Daumen und gekrümmtem Zeigefinger in die Backe eines Schülers zu kneifen und zu drehen, bis man vor Schmerzen den Hals verrenkte, war eine der Spezialitäten von Oberstudienrat Dr. Alois Knoblauch, Latein, bei der anderen misshandelte er statt der linken Wange das linke Ohr. Dr. Knoblauch war Rechtshänder, Wahlspruch: „Watt 'en Kerl iss, iss 'en Lateiner.“

Jeglicher Wind aus den Segeln genommen

Oberstudienrat Werner Micke dagegen holte genüsslich verbal zum Schülerkinnschlag aus, vorzugsweise bei seiner Beurteilung am Schuljahresende: „Wo Sie gehen, Herr D., entsteht keine Lücke.“ Das sind Macht missbrauchende Demütigungen und Verletzungen, empfindsame Schülergemüter sind an so was zerbrochen.

Das Gymnasium heute 'würdigt' derartiges Unterrichtsgebahren auf seiner Internetseite zur Schulgeschichte mit einem Zitat des damaligen Hamburger Schulleiters und späteren Oberschulrats Kurt Zeidler (1889 - 1982) zum Lehrerbild des frühen 20. Jahrhunderts: „Der Lehrer wurde uns zum Sinnbild jener großen, fremden, drohenden Macht, der wir ausgeliefert waren mit Haut und Haaren – ein Gefühl, gemischt aus Furcht, Hass und grenzenloser Verehrung.“ Einer Kritik an der dahintersteckenden Brutalität wird auch gleich jeglicher Wind aus den Segeln genommen. Statt dessen heißt es schlicht: „Auf die damalige Art des Unterrichtens und auf die Persönlichkeiten der Lehrer kann hier nicht näher eingegangen werden“.

„Harte Pflichttreue und rücksichtslose Gerechtigkeit"

Verständnis und Verzeihen schimmern sogar durch, wenn der norddeutsche „Reformpädagoge“ unreflektiert weiter zitiert wird. Zwar sei manche Schülerfaust in der Tasche geballt und der Lehrer als „die Ursache mancher jungen Bitternis und argen Not“ (Kurt Zeidler) hingenommen worden, „im Grunde“ habe jedoch keiner etwas auf seinen Lehrer kommen lassen. „Alle wussten“, darf Kurt Zeidler fröhlich weiter verherrlichen, „seine harte Pflichttreue und rücksichtslose Gerechtigkeit zu schätzen und gewöhnten sich daran, seine herbe Strenge in Kauf zu nehmen.”

Bis zum Wandel der gesellschaftlichen Werte von „Gehorsam und Unterordnung“ (Zitat einer Umfrage von 1951) zu „ Selbständigkeit und freier Wille“ Anfang der 1970er Jahre werden die Quälereien, die viele Schülergenerationen ertragen mussten, fast zynisch wegchronologisiert mit ausführlichen Beschreibungen sämtlicher baulicher Veränderungen. Es bedurfte erst neuer Lehrpläne, die „Selbständigkeit, Kritikfähigkeit und Kreativität der Schüler statt reines Auswendig lernen (sic!) in den Mittelpunkt stellten“, was sich in den Schulbüchern bisweilen mit „ Aufgabenstellungen wie 'diskutiere den Sachverhalt' oder 'nimm kritisch Stellung' (...) in manchmal fast übertriebener Weise“ geäußert habe.

Im „schlaksigen Pullover-Jeans-Outfit“ durch Bankreihen und Schulflure

Auch die Lehrer sahen, so der ruhrgymnasialgeschichtliche Parforceritt weiter, plötzlich anders aus, unkonventionelle Kurzhaar- oder zottelige Langhaarfrisuren statt „ kurze Haare und stramme Scheitel“, ließen „Schlips und Maßanzug“ im Schrank und liefen im „schlaksigen Pullover-Jeans-Outfit“ durch Bankreihen und Schulflure. Ergebnis: „Das Ruhr-Gymnasium ist im Laufe der Jahre zu einer nach heutigem Verständnis 'völlig normalen Schule' geworden.“

Von Februar 1966 datiert der letzte von 80 Einträgen von körperlichen Züchtigungen an einer Wittener Volksschule, deren Namen das Stadtarchiv nicht nennen will. Auch die Namen der 77 aufgeführten gezüchtigten Schüler im Alter zwischen sieben und fünfzehn Jahren gibt die Stadtarchivleiterin Dr. Martina Kliner-Fruck nicht preis. Auf 17 Schulheftseiten außerdem handschriftlich festgehalten wurden Alter, Klasse, Datum, Strafmaß sowie der jeweilige Anlass der Bestrafung, vom züchtigenden Schulmeister jedes Mal mit Unterschrift bestätigt, in Einzelfällen vom Schulrat gegengezeichnet, wobei die männliche Bezeichnung nichts darüber aussagt, ob eine Frau oder ein Mann den Rohrstock schwang.

Tafel weisungswidrig "ausgewischt"

Stockschläge auf Gesäß (Steiß) und Rücken waren das beliebteste Mittel der Wahl, von einem leichten bis zu acht, je nach Schwere der Missetaten. Ein "leichter Schlag ohne Ziel" konnte aber auch als Zuchtmittel reichen, einmal setzte es auch 'nur' eine Ohrfeige, ein anderer Zögling kam mit "4 Heftseiten abschreiben" davon.

"Hat Hausmeister ins Gesicht geschlagen" war 1948 die erste schulische Verfehlung, die mit handgreiflichen Sanktionen geahndet wurde. Den letzten Stockschlag auf der Liste traf einen Erstklässler im Februar 1966, weil er die Tafel offenbar weisungswidrig "ausgewischt" hatte. Ansonsten griffen die Nachkriegspädagogen schon mal gern wegen "wiederholtem Lügen" zum Rohrstock oder wegen nicht erledigten Hausaufgaben, Rohheiten gegen Mitschüler oder "ständigem" Stören des Unterrichts. Ein anderer Schulgänger hat dann auch mal einen Mitschüler geschlagen, die Schulordnung gestört oder war wegen "grobem Unfug auf der Straße" in Ungnade gefallen.

Halbes Zitat einer abfälligen Äußerung

Mit einer Beleidigung einer Lehrerin konnte man sich als Schuldotz auch schon mal einen Stockhieb einfangen wie auch mit "wiederholter Widerborstigkeit", Abschreiben oder Rauchen auf der Toilette. Drei Stockschläge musste sich ein Schüler für Steinewerfen auf dem Hof bei seinem Lehrer abholen, für jemanden "mit Fuß ins Gesäß getreten" waren ebenfalls drei Stockschläge fällig. Andere hatten die Unterschrift der Eltern nicht vorgezeigt, sich offenbar unerlaubt vom Turnunterricht entfernt, waren vorlaut, albern oder ungezogen. Eine körperliche Züchtigung wurde mit einem halben Zitat einer abfälligen Äußerung gerechtfertigt: "Der soll mich doch ...". Niespulver verstreuen zog Prügelstrafen nach sich genau so wie einem "Vordermann Zirkelkasten weggenommen".

Streng und schrullig

An den "strengen und schrulligen" Lateinlehrer Dr. Alois Knoblauch erinnert sich auch der frühere Herausgeber des Bommeraners, Werner Jacob. In seinem kleinen Buch „Der weiße Schimmel gehört zu den Raubvögeln“ über seine Schulzeit am Ruhrgymnasium von 1946 bis 1956 beschränkt er sich allerdings bewusst auf die eher humorigen Schrullen des Philologen. Von seinen Schülern „Ali“ genannt, habe dieser sich nicht mit der Anrede „Herr Knoblauch“ zufriedengegeben. „Das heißt entweder Herr Doktor oder Herr Stodienrat!“ Lehrer „Ali“, der seine Schüler „Känderchen“ nannte, habe auch keine Gelegenheit verpasst, um darauf hinzuweisen, dass in seiner Heimatstadt Königsberg einst weltbekannte Geistesgrößen lebten – „Kepler, Kant, Kopernikus!“

"Besonders an Schul- und Bildungsfragen interessiert"

Der Ohrfeigen austeilende Oberstudienrat Friedrich-Karl Kreuger saß vor, zwischen oder nach seinen Unterrichtsstunden in Deutsch und Erdkunde auch im Stadtrat, wahrscheinlich von 1961 bis mindestens 1974. Auf dem Kandidatenplakat des Kreisverbands Witten der SPD wird der 33-jährige Studienassessor Kreuger für den Wahlbezirk 13 als "besonders an Schul- und Bildungsfragen interessiert" vorgestellt. Neun Jahre später kandidiert der inzwischen 42-jährige Oberstudienrat für den Wahlbezirk 9, Wullenstadion, schon als Vorsitzender des Stadtbeschlussausschusses. Altbürgermeister Klaus Lohmann, der damals auch seine Politikerkarriere im Stadtrat startete, erinnert sich an den Parteigenossen Kreuger vom SPD-Ortverein Königsholz auch als Mitglied im Schulausschuss.

"Geschichten rund ums Ruhrgymnasium" bis heute "in manchen Köpfen tief verwurzelt"

Heute leitet Dirk Gellesch das ehemalige Städtische Ruhrgymnasium. Im Augenblick sehe er keinen Anlass, dem Thema "Schlagepädagogik" konkret nachzugehen. Sollten sich jedoch Betroffene melden, werde er sich der Verantwortung seiner Vorgängerkollegien stellen, sagt Gellesch, erst seit März 2019 an der Spitze des RGW: "Wenn es etwas zu entschuldigen gibt, werde ich das tun." Er selbst habe einige Jahre die RGW-Schulbänke gedrückt, auch von daher kenne er viele "Geschichten rund ums Ruhrgymnasium" und wisse um den Ruf, der "bis heute in manchen Köpfen tief verwurzelt" sei.

Die Handgreiflichkeiten der Lehrkräfte am Ruhrgymnasium bis 1970 hat der Autor selbst nicht erlitten - aber drastisch miterlebt. Mehrere Aufrufe in einem lokalen Anzeigenblatt an weitere Zeitzeugen blieben unbeantwortet. Kontakte zu und Fragen an die genannten Lehrer waren nicht möglich, Spuren ihrer Verbleiben nicht aufzufinden. Damit soll die Geschichte aber nicht enden. Der Text wird fortgesetzt werden.