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Schulleiter trifft von früherer Lehrergewalt Betroffene
"Musikalische Lesung" als "Auftakt zu einem Netzwerk der Ehemaligen" geplant

Als "bedrückend und schon gar nicht hinnehmbar", wird Schulleiter Dirk Gellesch die Erlebnisse später beschreiben, die ehemalige Schüler des Ruhr-Gymnasiums ihm bei einem Treffen Anfang dieser Woche aus ihrer Schulzeit vor über 50 Jahren berichteten. Anlass des Treffens war eine Stadtzeit Witten-Titelgeschichte vom 3. Juli 2021 zum Thema Lehrergewalt an Schülern des Ruhr-Gymnasiums vor 1970. Bevor er dem Thema "Schlagepädagogik" am RGW weiter nachgehe, hatte Dirk Gellesch in dem Artikel damals geäußert, wolle er selbst mit Betroffenen sprechen und sich ein eigenes Bild von diesem Kapitel der RGW-Geschichte machen. Nach drei Jahren gaben ihm Ehemalige in seinem Amtszimmer dazu die Gelegenheit.


Stadtzeit Witten-Titelbild vom 3. Juli 2021, RGW-Leiter Dirk Gellesch in seinem Büro beim Gespräch mit von Lehrergewalt vor 1970 Betroffenen: "bedrückend und schon gar nicht hinnehmbar" - Text, Fotos (2), Montage: wab, 20.6.2024


Fortsetzung Titel ...
Handgreifliche Gewalt oft mit auf dem Stundenplan

So einige Vorgespräche waren nötig gewesen mit teils krankheitsbedingten längeren Pausen, bevor ein gemeinsamer Termin gefunden werden konnte. Zum Schluss hatten sich drei ehemalige RGW-Schüler bereit erklärt, im Beisein des Autors dem Wunsch des heutigen Schulleiters Gellesch zu folgen und von ihren Gewalterfahrungen zu berichten, die ihr Schülerleben am RGW erschütterten und bis heute nachwirken.

Einer hielt bis zum Abitur durch

Sie sind in Witten aufgewachsen und sie wohnen bis heute in Witten. Sie heißen Detlef Mohrmann, Mick Hannes und Peter Biermann. Zwischen 1962 und 1974 waren die drei Ehemaligen den mitunter gewalttätigen und auch aus heutiger Sicht irren Launen und Ausbrüchen einiger ihrer damaligen Pauker ausgeliefert. Zwei verließen mehr oder weniger freiwillig vorzeitig das damalige reine Jungengymnasium an der Breitestraße, einer hielt bis zum Abitur durch, allerdings nicht, ohne eine Klasse wiederholen zu müssen.

Detlef Mohrmann, Dirk Gellesch, Peter Biermann, Mick Hannes (v. l.) im RGW-Direktionsbüro: sprichwörtliche "Lust, Schüler zu quälen" -
Foto: wab


Als "begeisterter Schüler" sei er nach der damaligen vierten Volksschulklasse ans Ruhr-Gymnasium gewechselt, beginnt Mick Hannes mit seinen Erinnerungen an seine RGW-Zeiten. Bis sich am Beginn der Quarta (Klasse 7) ein neuer Lehrer vor die Klasse stellte. Sein Name sei Dr. Welwei, habe der verkündet, den Namen ihrer Eltern würden sie als seine Schüler bald vergessen, seinen jedoch nie. Diese "seelische Gewalt", so Hannes, habe in ihm eine ständige Schulangst ausgelöst, die ihn nicht mehr losgelassen habe. Welwei, das sei angemerkt, wechselte in den 1970er Jahren als altsprachlicher Philologe an die Ruhr-Universität Bochum.

Sprichwörtliche "Lust, Schüler zu quälen"

Handgreifliche Gewalt stand in anderen Fächern oft mit auf dem Stundenplan. Von Lehrern, deren Namen die drei Ehemaligen noch heute wie im Schlaf aufzählen. So "Opa Thee", Diplom-Sportlehrer mit einer schon damals sprichwörtlichen "Lust, Schüler zu quälen", erinnert sich auch Hannes. Schüler, "besonders die dicken", so Hannes, am Ohrläppchen oder an der Oberarmhaut quer durch die Sporthalle hinter sich her zu ziehen sei dessen Methode gewesen, dafür zu sorgen, "dass Sport auch nicht unbedingt Spaß machte". Ein anderer, Studienrat Gräb, Deutsch und Erdkunde, gefiel sich mit anderer Strenge: der zu maßregelnde Schüler habe sich mit hinter dem Rücken verschränkten Händen und geschlossenen Augen vor ihn hinstellen müssen und wählen dürfen, ob er die linke oder rechte Seite geohrfeigt haben möchte. Danach banges Warten, bis eine flache Hand einem ins Gesicht knallte.

Gegenwehr blieb nicht aus. Und mündete mitunter in irrwitzige Kampfszenen: Studienrat Friedrich Karl, genannt "Freddy" Kreuger, Kennzeichen: Kopfschmerzen? Zahnschmerzen? Ohrenschmerzen? Wer verneinte, bekam eine Ohrfeige, die saß. Brillenträger durften vorher noch ihre Brille abnehmen. "Freddy" Kreuger also habe, seine Hand ausholend, vor ihm gestanden, erinnert sich Hannes, und er habe bei dem Versuch, den Schlag abzuwehren, einen Füllfederhalter in der Hand gehalten. Ergebnis: Die Metallspitze des Füllfederhalters bohrte sich in den Handballen des Deutsch- und Erdkundelehrers. Die Schlagfertigkeit des Pädagogen, nebenbei Ratsherr und Mitglied des Schulausschusses, habe danach deutlich nachgelassen, meint Hannes schon damals festgestellt zu haben.

"Da fragst du noch, du Lümmel?"

Vor einer Niederlage am RGW gerettet hat ihn das nicht. Eines schönen Nachmittags habe er, inzwischen einige Klassen weiter, mit einem Klassenkameraden in der Stadt vor der Buchhandlung Lehmkul gestanden, der ihn dann fragte, ob er gerne Bücher lese und wenn ja, welche. Den großen, schlanken Mann, der neben ihm stand, nicht beachtend habe er geantwortet, zum Lesen habe er keine Zeit, er wolle Musik machen, Gitarre spielen. Der große, schlanke Mann sei Dr. König gewesen, Deutsch und irgendein anderes Fach, der habe ihn am nächsten Tag während des Unterrichts aus seiner Klasse geholt und auf dem Flur geohrfeigt. Auf Hannes' Frage, warum, habe König geantwortet: "Da fragst du noch, du Lümmel?" Eine Beschwerde, unterstützt von seiner Mutter, beim damaligen Direktor habe ihm einen Tadel im Klassenbuch und die Nichtversetzung eingebracht, sagt Hannes. "König hatte Einfluss auf die ganze Schule", ist sich Hannes bis heute sicher.

Nach den Sommerferien als Sitzenbleiber Start in der neuen Klasse: Der Klassenlehrer, der hereinkommt, ist Dr. König. Für Hannes das Signal, am RGW keine Chance mehr zu haben. Hannes wechselte ans Lessing-Gymnasium in Bochum-Langendreer und machte dort 1973 sein Abitur. Damals schon an den Wochenenden mit der Wittener Rockband "Franz K." auf Tour blieb er Musiker bis zum Ende seines Berufslebens.

Keinerlei Anlaufstellen, mit jemandem über derlei Vorkommnisse zu reden

Beruflich haben auch die beiden anderen Ehemaligen ihren Weg gefunden, Detlef Mohrmann als Betriebswirt und Tonstudiobetreiber, Peter Biermann als Kfz-Meister und Kfz-Sachverständiger. Vergessen haben sie die Erniedrigungen und Drangsalierungen während ihrer Schulzeit am RGW trotzdem nicht. Nichtsahnend am ersten Gymnasiastentag das Schulgebäude durch den Haupteingang an der heutigen Synagogenstraße betreten und Dr. König in die Arme stolpern: Ohrfeige und Tadel im Klassenbuch. Nur Lehrer durften den Haupteingang benutzen. Heute ist er, das nur nebenbei, defekt und verschlossen. Er habe es damals "als völlige Normalität" wahrgenommen, sagt Mohrmann, es habe keinerlei Anlaufstellen gegeben, mit jemandem über derlei Vorkommnisse zu reden. Mitschüler hätten offen geheult und niemand hätte sich darum gekümmert. Die Freddy-Kreuger-Klatsche habe er sich mehrmals eingefangen. Anlass: im Unterricht aufgerufen zu werden und die Hausaufgaben nicht gemacht zu haben.

Mit derlei Verlässlichkeiten habe man ja noch umgehen können, sagt Peter Biermann, besonders gepiesackt hätten einen die ständigen Unberechenbarkeiten. Wieder Dr. König: ihn als Schüler einmal nicht gegrüßt und sich sofort eine Ohrfeige eingefangen. Auch die meisten anderen handgreiflichen Übergriffe einiger Größen der damaligen RGW-Lehrerschaft kann Biermann aus eigener Erfahrung bestätigen und lebhaft schildern, ringt jedoch als derjenige, der bis zum Abitur am RGW durchgehalten hat, seinen Pennälerjahren auch positive Seiten ab. Resilienz, Widerstandsfähigkeit, so sein Stichwort. Seine Erfahrungen am RGW hätten ihn gut gewappnet gegen die Widrigkeiten seines späteren Lebens. Und Gerechtigkeit. Er habe fast immer gewusst, wofür er eine Klatsche verpasst bekommen habe. "Ich hatte dann auch Mist gebaut und gegen damalige Regeln verstoßen", sagt er.

Potenzial, "einem das ganze Leben zu versauen"

Widerstand, Aufsässigkeit, auch die wird in der kleinen Runde angesprochen. Gasleitungen im Physikraum wurden mit Wasser geflutet, Stromkreise im Musikraum beim Abspielen einer bestimmten Schallplatte ("Die Moldau" von Smetana) mit einem Kurzschlussstecker abgeklemmt, "Ersatzteillager" aus mutwillig zertrümmerten Tischen und Stühlen im Klassenzimmer aufgetürmt. Wer sich als verständnisvoll und "weich" erwies als Lehrer, wurde von den Schülern auch gnadenlos niedergemacht, da sind sich die drei Ehemaligen auch einig. Wer als Lehrer nicht hart durchgriff, brauchte auf Respekt, von persönlichen Ausnahmen abgesehen, meist nicht zu hoffen.

Auch im Nachhinein kein Grund, die Verfehlungen von Teilen der damaligen Lehrerschaft zu rechtfertigen, betont Schulleiter Dirk Gellesch. Die Institution Ruhr-Gymnasium als Schule habe gegenüber ihren Schutzbefohlenen, den Schülern, damals schlicht versagt. Was ihm geschildert wurde, "war damals genau so wenig richtig wie heute", versichert Gellesch. Das geschilderte "Grundklima der Angst" habe das Potenzial gehabt, "einem das ganze Leben zu versauen". Dieses "Ohnmachtsverhältnis", dem Schüler damals offensichtlich ausgeliefert gewesen seien, tue ihm "unendlich leid" und er wolle sich als Verantwortlicher der Institution RGW diesen Anschuldigungen ebenso stellen wie dem langen "lauten Schweigen zum Synagogenbrand" 1938 auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Eine Atmosphäre der Angst, Unsicherheit und Bedrohung könne sich eine Schule nicht erlauben, schreibt Gellesch auch in seiner nachbetrachtenden persönlichen Mail an die Gesprächsrunde der Ehemaligen.

Und weist, wie schon bei dem Treffen in seinem Dienstzimmer, nochmal auch auf Versöhnliches hin. Auf eine geplante "musikalische Lesung" mit dem ebenfalls ehemaligen RGW-Schüler Mark Daniel, begleitet vom Sänger und Gitarristen Dirk Kiffmeier, am Samstag, 28. September, 19 Uhr in der Aula des Ruhr-Gymnasiums, Synagogenstraße 1. "Dieser Abend soll auch ein Auftakt zu einem Netzwerk der Ehemaligen am RGW (Alumni-Netzwerk) sein", hofft und wünscht sich Gellesch.

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