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STADTGESPRÄCHE | ||||||||||||||
Serie: 50 Jahre 68er-Studentenbewegung - eine Spurensuche, Interview mit "Offene Räume"
SFDA, Sozialistische Front der Arbeiter, diese vier Buchstaben wiesen den Weg,
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Mit der Straßenbahn durch die Innenstadt: Mittelzentrum zwischen Dortmund und Bochum - Foto: wab | ||||||||||||||
Maschinenbauarbeiter, Ingenieurstudium, vorher Kunst, dann Ökonomie, Philosophie,
Politikwissenschaft,
Geschichtswissenschaft, spannender kann ein Studentenleben kaum laufen,
noch dazu in der in den 1968er Jahren politisch hochemotionalisierten Hansestadt Hamburg.
Alles "ganz normal", sagt Priddat, „wer hat denn damals geglaubt, dass er einmal einen
Beruf haben wollte? Wir wussten, wenn wir studieren, dass wir danach auch einen Beruf kriegen.
Studieren war eine Lebenszeit, die kommt nie wieder.“
Locker ging es dann irgendwann auch beruflich irgendwie weiter. Lehrtätigkeit
an der Hochschule der Künste in Berlin ("Das war sehr nett, nur Designerinnen, nur Mädels."),
mehrere Assistenzen bei Finanzwissenschaftlern und Politologen, ein Projekt
am sozialwissenschaftlichen Reemtsma-Institut und schließlich 1991 der Lehrstuhl
für Volkswirtschaft und Philosophie der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät
der UW/H,
Partei- und gesellschaftspolitisch fand Priddat schon als Schüler erst bei den Jusos
eine Heimat, schloss sich dann aber schon Priddat wurde 1950 in Leuna in der damaligen DDR als Sohn eines Schriftsetzermeisters geboren und wuchs nach seiner Übersiedlung in Celle, später in Uelzen in Niedersachsen auf. Er wohnt und lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Witten. StadtZEIT Herr Prof. Priddat, welche Eindrücke aus Ihrer Studentenzeit in den 1968er Jahren sind Ihnen heute noch besonders präsent? Priddat Ich hatte nie das Gefühl gehabt, ich schaffe was nicht oder ich verpasse was. Das war immer alles hochenergetisch. Wäre ich nicht Professor für Wirtschaft und Philosopie geworden, wäre es etwas anderes geworden. Diese Fachenge heute, klar, man musste irgendwann eine Prüfung machen. Aber studiert, das Fach hat man doch gar nicht so ernst genommen. Auch Wirtschaft habe ich erst später als Assistent sozusagen genauer durchdacht, während des Studiums nicht. Man hat seine Scheine gemacht, ging ja alles schnell, alles nicht so aufwändig. StadtZEIT Welche politischen Ambitionen verbinden Sie mit Ihrer Studentenzeit?
Priddat Ich war Mitglied einer kleinen Gruppe, StadtZEIT Was, denken Sie, waren die Ursachen der 68er-Studentenproteste?
Priddat Im Grunde waren wir von der Politik enttäuscht.
Wir hatten keine Ahnung, was Politik ist, sahen da aber nur alte, dicke Männer.
Und dann haben wir rausgekriegt, dass die ja alle teilweise Nazis waren oder die Nazis
zugelassen hatten. Und dann waren sie teilweise unsere Väter. Als wir das begriffen,
waren wir ziemlich erschrocken über die Väter.
Sehr viele haben sich von ihren Familien getrennt.
Ich erinnere mich an einen aus Wuppertal mit einer Seifenfabrik,
der hat sein Erbe nicht ausgeschlagen, er hat StadtZEIT Die Nazivergangenheit der Elterngeneration war aber nicht die einzige Triebfeder der Proteste. Priddat Luxus für alle, das ist die zweite Komponente, es war eine Kulturrevolution. Wir haben erstmals ganz andere Sachen gegessen, Muscheln, Krebse und so was, und fanden, dass so was auch schmeckt und gar nicht so teuer ist.
StadtZEIT Die ersten griechischen Restaurants machten damals Priddat ... ja, wir waren nur bei den Griechen. Wir haben uns allerdings auch mit den Griechen mal geprügelt, einige waren mehr Stalinisten, mit denen haben wir uns geprügelt. Auch die ersten Türken kamen, die konnten wir gar nicht einschätzen, und Marrokaner. Wir haben die Kulturfrage gestellt. Warum hocken wir hier in Deutschland, das sind ja auch interessante Kulturen. Und die Kulturfrage im Sexuellen natürlich. Und radikal in der Kunst. Im Sexuellen wollte man auch radikal sein, hat aber nicht so ganz geklappt. Aber Öffnung schon. Warum muss man eine feste Freundin haben? Man kann zwei haben oder keine, oder mal drei. Klappte alles nicht so, aber ein bisschen schon.
StadtZEIT Was war sonst noch anders im Studentenleben vor
Priddat Plötzlich waren Dinge möglich, die man früher für
unmöglich gehalten hat.
Wir haben alle Bart getragen, was nichts bedeutete letztendlich, lange Haare natürlich,
wir konnten uns untereinander auch ein bisschen erkennen.
Parka hat man angezogen, Jeans und Parka, Uniformen eben. Aber das Entscheidende,
was mich geprägt hat, man konnte in Deutschland rumfahren,
überall hatte man Genossen, bei denen man wohnen konnte.
Wohngemeinschaften, die waren plötzlich das neue Modell.
Tausende von Wohngemeinschaften in ganz Deutschland,
drei, vier, fünf, sechs Leute in großen Wohnungen.
Die waren unverkäuflich, unvermietbar, die haben die aber gemietet.
In Hamburg, ein Freund in der Isestraße wohnte
mit anderen in einer Zwölfzimmerschlucht
für StadtZEIT Wenn man Ihnen so zuhört, Sie kommen so richtig in Fahrt. Priddat Ich habe mich dadurch auch zur Kunst hingezogen gefühlt, Malerei, Skulpturen, die ich vorher nie gesehen hatte, plötzlich öffnet man sich diese Radikalität, die auch von anderen gefordert und anerkannt wurde. Die haben wir auch gelebt mit einem wunderschönen Leben. Alles war witzig, heiter, erotisch. Wir hatten auch keine Probleme. Man wusste gar nicht, was Probleme sind. Wir haben gesagt, mein Gott, dann lös die doch sofort. Oder das eine Problem, wenn dir das nicht gefällt, nimm dir doch ein anderes. Das, finde ich, sind Haltungen, die ich heute noch habe, die aber heute viel mehr kollidieren mit der Gesellschaft als damals. Wir hatten natürlich auch mal Angst oder Wut, man wurde auch mal verprügelt oder verhaftet, was alles so passiert. Wir haben aber alles durchlebt und immer das Gefühl gehabt, wir sind auf der Seite derer, die die Gesellschaft prägen. Im gewissen Sinne haben wir das auch kulturell, aber politisch natürlich überhaupt nicht. Die, die in die politischen Parteien gegangen sind, sind in den normalen Wegen verrottet, in den Institutionen umgedreht worden. StadtZEIT Die Grünen gab es 1968 als Sammelbecken rebellischer Lebensformen noch nicht. Priddat Die Grünen habe ich von Anfang an skeptisch beurteilt, weil ich dachte, das ist so eine Art anthroposophische Bewegung. Da sind so viele Konservative drin, die die Erde lieben. Ich dachte, das ist ja Blut und Boden, oh Gott oh Gott, bloß nicht. Das hatten wir doch alles in den dreißiger Jahren, Heimat, Bäume, Erde. Zu Anfang war ich sehr skeptisch. Später, als wir mit der Ökonomie wissenschaftlich auch mehr mit Ökologie machten, ist einiges klarer geworden. Aber die Leute waren mir immer zu moralisch. Ich hatte ja, wenn, dann eine klassische politisch-ökonomische Theorie, aber doch keine Moraltheorie. Politik aus Moral, ich dachte, das wird ja fürchterlich, wenn die gewinnen, setzen sie ja die Normen. Bei den Grünen haben wir häufig auch das Gefühl, dass sie die Normen setzen. Autofahren verboten, oder nur noch 120, keine Kernkraftwerke mehr, das ist vielleicht alles sinnvoll, aber sie wollen immer verbieten und regeln. Ich dachte, das ist ja fast wie in der DDR. Die Grünen sind für mich gelebte DDR, nur mit der Nettigkeit der Sonnenblume. Da war ich sehr vorsichtig. Ich war nachher Sozialdemokrat, das fand ich richtig, eine Modernisierungs- und Reformpartei, was sie leider nicht mehr ist, das haben sie alles verloren. Ich dachte, na ja, Willy Brandt, den ich revolutionär gesehen natürlich lächerlich fand, aber immerhin, er hat so einen Impuls gegeben, Reform der Gesellschaft. StadtZEIT .. und Aussöhnung mit dem Osten ...
Priddat ... ja, er übernahm etwas von der 68er-Bewegung,
zu viel Frieden, zu viel Moral, aber immerhin, dachte ich, da ist ein Impuls.
Ich habe das über längere Zeit als passives Mitglied begleitet. Später
habe ich Leute aus der SPD beraten,
Gabriel, als er noch Ministerpräsident in Niedersachsen war StadtZEIT Kamen Sie in den Folgejahren auch mit den extremistischen Auswüchsen der 68er-Studentenrevolten in Kontakt?
Priddat Ich habe zwei Leute gekannt, die RAF-Sympathiesanten waren.
Dann sind auch welche von denen nachts von der Polizei ausgehoben worden,
weil man dachte, da gibt’s Unterlagen. Die kamen mit StadtZEIT Treffen Sie sich heute noch mit Weggefährten aus der Zeit, gibt es noch 68er-Zirkel?
Priddat Nein, es gibt keine Zirkel mehr. Wenn man sich trifft,
nach der zweiten Flasche Rotwein knüpft man nochmal an.
Viele haben das auch schon vergessen. Aber es gibt so eine Wiedererkennungsmelodie.
Viele sehen das romantisch, oh Gott, was hätten wir alles machen können.
Mehr haben wir nicht mehr. Die 68er haben einen Impuls gegeben,
der jetzt mit meiner Generation ausstirbt.
Das liegt aber auch an dem idealistischen Impuls selber,
dass da nichts konkret rauskommen konnte. Die Cleveren haben Karrieren aufgebaut,
in der FDP und vor allem in der SPD, aber auch in der CDU. Da sind auch 68er dringewesen.
Die haben sich gewandelt und gedreht, damit sie ihre Karrieren machen konnten.
Viele sind in die Wirtschaft gegangen,
vor allem ins Verlagswesen und zu den Medien. Rethorisch begabte Menschen
gehen in rethorisch ausgefuchste Verlage, Zeitungen, Fernsehen. Da sind viele
hängengeblieben, auch in der Kunst, beim Theater. Jetzt sterben sie aus.
Ihre Kinder wollen genau das Gegenteil. Die wollen das Zeug nicht hören
und finden das StadtZEIT Erinnern Sie sich auch an konkrete Ereignisse 1968, Hamburger Hafenstraße vielleicht? Priddat Das war alles später. Molotowcocktails ins Pan-American-Fenster, das ja. Alles war anti Amerika, gegen den Vietnamkrieg. Irgendwelche schrecklichen kommunistischen Partisanentruppen, wir wussten gar nicht, was für schreckliche Leute das waren, wir haben die nicht geliebt, aber sie waren unsere Verbündete im Kampf gegen Amerika. Ich erinnere mich auch an Polizeiketten. Die Polizei war schlecht bewaffnet und auch ungeschickt. Wir haben die weggetrieben. Dann kamen sie mit den Wasserwerfern, dann mit Gas in den Wasserwerfern, das war dann schon schwierig. Zweimal bin ich auch verhaftet worden. Man wurde mit dem Wagen rausgefahren in irgendwelche Polizeikasernen, über Nacht ohne Essen, ohne Trinken. Am nächsten Tag wurde man wieder freigelassen. Ich habe auch Institutsbesetzungen an der Uni mitgemacht, wo wir den Cognac des Dekans ausgetrunken haben, ein bisschen Papier kaputtgerissen, eigentlich waren wir nur unordentlich, bis die Polizei uns rausgeräumt hat. Symbolpolitik. StadtZEIT Welche Folgen hatten die Verhaftungen? Priddat Ich bin einmal registriert worden, 1972 gab es eine Amnestie. Alle Unterlagen wurden vernichtet und fertig. Ich habe nie ein Verfahren gehabt. Ich hatte eine Akte. Aber wissen Sie, das war uns so egal. Der Staat, wer war denn das? Der war doch lächerlich. Wir konnten den Staat knicken, wir konnten ihn lächerlich machen, wir konnten ihn umgehen. Wir haben viele illegale Sachen gemacht, weil wir dachten, der Staat ist sowieso schwach, der erwischt uns nicht. Wir spielten ein Spiel, wir gegen den Staat, wir gegen die Eltern, wir gegen die Kultur. Das war im Grunde immer so eine Inszenierung. Wer spielt welche Rollen, welches Spiel spielen wir, was machen wir, damit wir viel zu lachen haben. Das war so eine heitere Zeit, kann ich mit gar nicht mehr vorstellen. Bis ich 40 war, bis ich eine Familie hatte, war ich völlig unbeschwert. Ich dachte immer, mein Gott, wir haben definiert, wie das Leben ist, wir leben so, wie wir wollen, da kann uns keiner was, und wenn irgendeiner sagt, das geht nicht, dann haben wir den ausgelacht. Was bist du für eine rückständige Type, du kleinbürgerlicher Bock? Wir waren auch unanständig, frech, auch aggessiv, aber immer nur zusammen, alleine nicht. Es war eine schöne Zeit, aber das ist doch unwichtig, das ist doch nur privat. Es war eine Entdeckungszeit für die Gesellschaft. Viele aus der Gesellschaft haben sich das angekuckt und wollten auch so werden. Ich erinnere mich noch, in unserem SFDA waren ja auch Arbeiter, die haben uns beobachtet und gesagt, hallo, warum soll ich das Leben eines Arbeiters verbringen, das ist doch Scheiße. Ich will auch so leben wie die. Und dann haben sie ihr Abitur nachgemacht, Fachhochschule, und sind dann Lehrer geworden oder Sozialarbeiter oder so was. Wir dachten immer, wir arbeiten mit dem Proletariat zusammen für die Revolution, dabei waren wir nur das Aussteigermodell (lacht) für manche, die das genau beobachtet haben. Sie haben gedacht, Mensch, Mensch, die leben hier ein schönes Leben, so teuer ist das gar nicht, reich sein muss man dazu nicht. StadtZEIT An der UW/H unterschreiben Studierende einen 16-seitigen Vertrag, bevor sie einen Seminarraum von innen sehen. Haben Sie diese Uni nicht als krassen Kontrast zu Ihrem eigenen Studentenleben gesehen?
Priddat Das kann man nicht sagen. Ich fand die Privatuniversität Witten
deswegen gut, weil sie anarchische Züge hatte. Als ich anfing 1991,
gab es sehr viele informelle Regeln, sehr viel individuelle Entscheidbarkeit,
das war schon mal ganz anders als an staatlichen Hochschulen mit ihren
hochschulrechtlichen Verbindlichkeiten und dergleichen. Das hat sich bei uns auch ein
bisschen geändert, weil der Wissenschaftsrat ständig kontrolliert,
ob wir auch alles richtig machen. In dem Sinne passte man sich an.
Ich hätte zum Beispiel die Bolognareform mit dem Bachelor nicht gemacht,
diesen ganzen Bürokratisierungsquatsch hätte ich nicht gemacht.
Aber es sind auch andere Kollegen, andere Generationen,
die unter anderen Umständen groß geworden sind,
die überhaupt nicht kannten, welchen Freiraum wir hatten.
Die sich für mich immer schon gerne freiwillig Regeln unterwerfen.
Aber nein, diese Universität, ich hätte auch woanders hingehen können,
aber als ich merkte, was hier an Freiheiten möglich ist, dachte ich,
mein Gott, eigentlich eine 68er-Universität. Was gar nicht stimmte,
weil die jungen Leute ganz anders waren.
Die waren mehr so hippie und öko, damals, heute nicht mehr. Heute gibt’s auch öko,
aber viel weniger. Heute gibt’s mehr so Leute, die Beruf machen wollen.
Ich lache die immer aus (lacht), sage, Beruf, wenn ihr gut seid, was kriegt ihr dann noch?
Macht doch erstmal euer Leben, denkt doch über euch nach.
Das ist die einzige Zeit, in der ihr lesen, nachdenken oder
vertiefte Freundschaften aufbauen könnt. Später habt ihr keine Zeit mehr dazu.
Aber die meisten wollen schnell einen Job.
Warum, damit ihr StadtZEIT Was unterscheidet die heutige Studierendengeneration von der vor 50 Jahren, Ihrer Meinung nach?
Priddat Die vierte oder fünfte Generation, die ich erlebe,
man rechnet immer so zwischen
StadtZEIT Leisten die Studierenden gegenüber ihren Kommilitonen
vor Priddat Die sind gut im Organisieren, im Managen und so was, nicht im Nachdenken. Interlektuell sind sie nicht so pfiffig. Sie sind smart aber nicht interlektuell, so kann man es vielleicht sagen. Das ist eben anders, das muss man auch akzeptieren. Ich mache immer auch das Auswahlverfahren mit, manchmal kippe ich vom Hocker, was da für Leute kommen. Ich will gar nicht klagen, aber es ist eben eine andere Gesellschaft. StadtZEIT Könnte der Verlust an studentischer Freiheit und Interlektualität, wie Sie es beschrieben haben, auf längere Sicht auch der Gesellschaft oder der Volkswirtschaft schaden? Priddat Ja, die sehe ich jetzt aber weniger bei den Studenten, sondern mehr bei den Kollegen, den Wissenschaftlern. Das heißt, die Wissenschaft, die heute fachlich eng und manchmal noch verspielt dies und das macht, wird plötzlich aufgerüttelt durch Leute, die meinen, dass jetzt wieder Klarheit herrschen muss, große, ich weiß nicht was, Werte oder so was. Es muss ja nicht das alte Zeug sein, irgendwas Neues. Jedenfalls kommen eine große Ordnung und straffe Typen, die die Sache ordnen. Und alle sind dafür empfänglich, weil sie heute so überindividuell, überliberalisiert sind, dass dann plötzlich so etwas wie eine große neue Ordnung und Ordentlichkeit von allen gerne gemocht wird. Weil dadurch ihr eigenes Leben, das sie nicht mehr urteilsmäßig sortieren können, sortiert wird. Da kommt was auf uns zu. Muss nicht die AfD sein, es muss auch nicht rechtsradikal sein, aber es wird eine strengere Ordnung mit einer hohen Selektion, bei der höhere Nachdenklichkeit, Reflexion, Interlektualität beiseite gedrängt wird. Ich merke manchmal schon, die schlechten Leute in der Wissenschaft, wie die in diese Richtung driften. Sie wissen selber, dass sie nichts händeln können, sie selber schlingern und wissen mal dies, mal das und bereiten sich innerlich darauf vor, dass ihnen mal jemand sagt, wo es langgeht. Das zeigen sie auch schon. Ich habe mehrere Kollegen erlebt, die nach rechts abgedriftet sind. Das finde ich nicht notwendig, aber eine härtere, straffere Haltung und Begriffsbestimmung, Deutlichmachung von Leitbildern, da wird etwas passieren. Die Studenten werden das natürlich mitmachen, weil sie nichts anderes kennen. Sie kennen diese Übergänge nicht, es gibt dort keinen Widerstand. Alles, was ihnen hilft, die Welt klarer zu sehen, und wenn sie ihnen von anderen so eingeordnet wird, das werden sie gerne aufnehmen. Die haben Schwierigkeiten, Komplexität zu denken und auszuhalten. Die wollen immer wieder reduzieren. Kann man das nicht einfacher sagen, kannst du nicht mal die Alternative klarer bestimmen? Dann sage ich, nein, die Welt ist völlig intransparent und es ist doch toll, dass wir uns darin bewegen lernen und aushalten, dass das so ist oder auch anders sein kann. Dann gucken sie mich groß an und sagen, sie würden gern die Dinge ein bisschen straighter erklären. Kann sein, dass das überhand nimmt, dieses straighter Erklären, weil ihnen die Welt zu verspielt ist, und Reflexion ist ihnen nur ein höheres Verspieltsein, ohne ihnen Hinweise zu geben. Aber wenn man nachdenkt, ist es eben nicht mehr einfach. StadtZEIT Zu verspielt? Wie meinen Sie das?
Priddat Man probiert mal dies, man probiert mal das, auch zu denken.
Der Gegenbegriff ist die big story, die große Erzählung, mit der Folge,
dass keiner mehr weiter als drei Meter denken kann. Tiefsinn als Schwachsinn.
Sie gehen tief rein, aber sie wissen gar nicht, warum, was ist denn da nebenan.
Das ist eine Tendenz, die hilft, diese Verwirrung und damit diesen Wunsch nach Ordnung
voranzutreiben, wenn man sozusagen nur segmentär ist,
dann muss eben ein anderer das Gelände definieren.
Darüber können sie nicht mehr nachdenken. Früher konnten die Leute,
die tief bohrten, auch noch das Gelände denken. Das fehlt,
und dieses den Studenten beizubringen, ist nicht so einfach.
Man muss immer wieder öffnen, zeigen, Dinge breiter setzen, relativieren,
was du jetzt hier so wichtig findest, ist im Verhältnis zu anderem überhaupt
nicht so wichtig. Denk mal die Welt größer, denk mal die Welt.
Vielen fehlen auch die Begriffe. Die Sprache ist ganz arm geworden.
Wir haben im Durchschnitt StadtZEIT Wenn man Politikern zuhört oder Kommentare in Zeitungen liest, leben in diesem Land doch alle so frei wie nie zuvor.
Priddat Die Leute haben aber kein Gefühl mehr für Emanzipation und Freiheit,
was sie eigentlich haben könnten. Jeder könnte das, was die 68er gemacht haben,
auch wieder machen, sich die Freiheiten nehmen. Aber die gesellschaftlichen Grenzen
sind enger gezogen. Es sieht alles so leicht und locker aus, aber sie sind enger gezogen.
Diese ganze Diskussion über StadtZEIT Noch einmal zu Ihnen als Volkswirt, sehen Sie einen Zusammenhang zwischen kultureller, vielleicht sogar anarchistischer Vielfalt und wirtschaftlichem Erfolg einer Gesellschaft?
Priddat Das kann man nicht sagen. Damals war die Situation die,
dass wir noch gute Wachstumsraten hatten. Man hatte zwar das Gefühl,
das Wachstum der 50er, 60er Jahre geht nicht endlos weiter, da wusste man schon was.
Aber wesentlich war dieses kulturelle Moment und das kulturelle Moment war Öffnung.
Die gesamte Medienseite, der Markt wurde erst gerade gemacht in der Zeit.
Von Film, Fernsehen, Zeitung, Zeitschriften, mehr gab's ja noch nicht. Pornos natürlich,
das wurde alles gemacht, groß aufgebaut. In dem Sinne waren die 68er sogar ein
Wachstumsimpuls, der natürlich auf dieser Event- und Kulturseite der Gesellschaft lag.
Während die andere Seite erstmal kaum davon berührt war, Industrie blieb Industrie,
das Design änderte sich langsam, mehr Elektronik kam langsam auf,
ich kann aber nicht sagen, ob diese Art der Verlebendigung, es ist eine Verlebendigung gewesen,
ein Aufbrechen starrer Normen, ob das StadtZEIT Nun leben wir in wirtschaftlich guten Verhältnissen, wenn man der Kanzlerin Merkel glauben will. Wäre das nicht eine gute Gelegenheit gerade für Studierende, nach 50 Jahren mal wieder ordentlich auf die Rebellenpauke zu hauen? Deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt sinken doch rapide, wie Sie vorhin ausgeführt haben.
Priddat Das interessiert mich ja immer, warum die jungen Leute nicht renitent werden
und alle Parteien abwählen. Weil, um die Jungen kümmert sich niemand.
Die Parteien sind Rentnerparteien, weil da die größeren Mehrheiten sind.
Da werden die Ressourcen verteilt. Vielleicht gibt’s ja irgendwann einen Schock.
Nicht Jamaika (nach der StadtZEIT In den traditionsreichen Universitätsstädten wie Freiburg oder Tübingen haben die Universitäten immer auch impulsgebend auf die Städte eingewirkt. Ist das vorbei?
Priddat Wir machen jetzt ein Projekt, algorithmengesteuerte Busse,
erstmal für die Studenten, dann aber gleichzeitig für die Bevölkerung.
Wenn einer einen Bus braucht, dann ruft er an mit einer App, dann kommt der Bus angefahren
und jeder wird individuell über den Algorithmus irgendwohin gefahren.
Das kostet etwas mehr als der normale Bus, aber es ist viel billiger als das Taxi.
Natürlich ist klar, dass die Stadt vorsichtig ist, sagt, oh,
was werden die Taxifahrer sagen und was werden die Busunternehmer sagen, der
VRR (Verkehrsverbund Rhein-Ruhr, StadtZEIT Die Frage zielte aber weniger auf den wissenschaftlich-technischen, sondern mehr auf den kulturellen Bereich. Priddat Lasst es, die Fenster waren geöffnet, jetzt gehen sie wieder zu. Historisch sind eben ein paar Chancen vorbei, die Leute sind seltsam vorsichtig. Und politisch engagiert? Nur ganz wenige. StadtZEIT Herr Prof. Priddat, ich danke Ihnen für dieses Gespräch. Das Interview führte Walter Budziak am 22.11.2017 |